Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. geldwerte Einnahme. vom Arbeitgeber bereitgestellte kostenlose Verpflegung. Zuflussprinzip. Einkommensberechnung. Ermächtigungskonformität. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Bei kostenlos durch den Arbeitgeber während der Arbeitszeit zur Verfügung gestellter Verpflegung handelt es sich um Einkommen im Sinne des § 11 Abs 1 S 2 SGB II.
2. Für den Zufluss dieses Einkommens und die Berechnung nach § 2 Abs 5 Alg-II-V (juris: AlgIIV 2008) ist es unbeachtlich, ob die vom Arbeitgeber bereitgestellte Verpflegung tatsächlich in Anspruch genommen wird.
3. § 2 Abs 5 Alg II-V ist rechtmäßig.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. März 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Zeitraum vom 01. Juni bis zum 30. November 2017 ohne Abzug eines Betrages für Sachbezüge vom Einkommen des Klägers zu 1.
Der 1962 geborene Kläger war seit dem 01. April 2008 bis zum 30. November 2018 bei der L GmbH als Kellner in Vollzeit abhängig erwerbstätig. Er arbeitete im Schichtdienst (grundsätzlich jeweils 8 bis 9 Stunden am Stück) und bezog monatlich schwankendes Einkommen. Die Auszahlung des Lohns war jeweils zum 10. des Folgemonats fällig. Neben den Bezügen in Geld stellte der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern während der Arbeitszeit Getränke und Verpflegung zur Verfügung, ohne dass diese hierfür ein weiteres Entgelt entrichten mussten. Ergänzend beziehen der Kläger, seine Ehefrau - die Klägerin zu 2 - sowie die im Juli 2008, Februar 2010 und Juli 2012 geborenen gemeinsamen Kinder - die Kläger zu 3 bis 5 - Leistungen nach dem SGB II. Für die Kläger zu 3 bis 5 wurde im streitigen Zeitraum Kindergeld in Höhe von insgesamt 582,00 € (Kläger zu 3 und 4 jeweils 192,00 €, Kläger zu 5, 198,00 €) gezahlt. Sie bewohnen die unter der im Rubrum bezeichneten Adresse gelegene rund 86 m² große Dreizimmerwohnung, für welche sie im streitigen Zeitraum eine monatliche Gesamtmiete i.H.v. 969,14 € schuldeten (539,14 € Grundmiete zzgl. Vorauszahlungen für Betriebskosten i.H.v. 208,00 € sowie für Heizkosten i.H.v. 222,00 €).
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom April 2017 bewilligte ihnen der Beklagte mit Bescheid vom 02. Mai 2017 für die Zeit vom 01. Juni bis zum 30. November 2017 vorläufige Leistungen i.H.v. monatlich insgesamt 958,05 €. Dabei ging der Beklagte von einem Gesamtbedarf i.H.v. 2.524,15 € für die Kläger aus (Regelbedarf 1.555,00 €, Kosten der Unterkunft und Heizung 969,15 €). Außerdem berücksichtigte er ein vorläufiges Durchschnittseinkommen des Klägers zu 1 i.H.v. 1.642,94/1.314,09 € brutto/netto sowie Kindergeld i.H.v. insgesamt 582,00 €.
Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch machten die Kläger geltend, das Einkommen des Klägers zu 1 betrage durchweg knapp 1.254,00 oder 1.255,00 € netto. Nach Abzug des Freibetrags seien demnach 924,00 € als bereinigtes Einkommen anzusetzen.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2017 als unbegründet zurück. Aufgrund der eingereichten Einkommensnachweise sei das Einkommen prognostisch für den Zeitraum Juni bis November 2017 i.H.v. 1.642,94 € brutto/1.314,09 € netto monatlich festgesetzt worden. Hiervon seien Freibeträge i.H.v. 330,00 € abgezogen worden, sodass ein anzurechnendes Einkommen i.H.v. 984,00 € verbleibe.
Hiergegen richtet sich die am 08. August 2017 bei dem Sozialgericht Berlin (SG) erhobene Klage, mit welcher die Kläger die Bewilligung vorläufiger Leistungen für die Zeit von Juni bis November 2017 i.H.v. monatlich insgesamt 1.019,89 € begehrt haben. Zu Unrecht ziehe der Beklagte vom Nettoeinkommen des Klägers zu 1 einen Betrag für Sachbezüge (Essen) ab. Der Kläger zu 1 nehme auf der Arbeit kein Essen zu sich, sondern esse lieber mit seiner Familie. Seine Tochter sei behindert, er wolle so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Ein tatsächlicher Zufluss des Sachbezugs sei mithin nicht gegeben. Andererseits sei es in der Gastronomie üblich, dass vom Verdienst das theoretisch zur Verfügung stehende Essen abgezogen werde, unabhängig davon, ob die Gelegenheit genutzt werde oder nicht. Der Arbeitgeber habe unter dem 19. April 2017 bescheinigt, dass keine freie Verpflegung gewährt werde. Ferner bleibe bei Anrechnung einer regelmäßigen Verpflegung auf der Arbeitsstelle gemäß der vom Bundesministerium der Finanzen festgelegten Sachbezugswerte kein ausreichender Betrag des Regelbedarfsanteils für Nahrungsmittel und Getränke für die Verpflegung zu Hause übrig. Es bestünden grundsätzliche Bedenken gegen die Anrechnung von angebotenem „kostenfreiem“ Essen. § 20 Abs. 1 S. 4 SGB II sehe vor, dass der Berechtigte ü...