Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit einer Normfeststellungsklage im Sozialrecht. Rechtswidrigkeit der Heraufsetzung der Mindestmenge für Perinatalzentren des Level 1 (Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.250g) mit Wirkung vom 01.01.2011 von 14 auf 30 Fälle durch den Gemeinsamen Bundesausschuss

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Streit eines Krankenhausträgers gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss war bis zum Erlass der Neuregelung des § 10 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGG als Angelegenheit des Vertragsarztrechts zu behandeln.

2. Eine Normfeststellungsklage, gerichtet auf die Feststellung der Gültigkeit bzw. der Nichtigkeit einer untergesetzlichen Rechtsnorm, ist als Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft.

3. Der Klage eines Krankenhauses, das Leistungen zur Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250g erbringt, gegen einen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Heraufsetzung von Mindestmengen für Perinatalzentren des Level 1 (Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.250g) fehlt nicht das nötige Feststellungsinteresse. Das Krankenhaus ist insoweit Adressat der allgemeinverbindlichen Regelung, als mit dieser unmittelbar ein Verbot der Leistungserbringung statuiert wird. Ein Verweis auf eine etwa vorrangig bei der Krankenhausplanungsbehörde des Landes zu beantragende Ausnahmegenehmigung nach § 137 Abs. 3 S. 3 SGB V ist nicht zulässig. Ein Krankenhaus darf nicht auf den Weg der Ausnahme bzw. des Dispenses verwiesen werden, wenn es der Überzeugung ist, dass die zentral vorgegebene Mindestmenge rechtswidrig sei.

4. Die im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind gerichtlich in der Weise zu prüfen, ob die spezifischen Verfahrens- und Formvorschriften eingehalten sind, ob sich die untergesetzliche Norm auf eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage stützen kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsnorm erfüllt sind und ob die Grenzen des Gestaltungsspielraums in Gestalt höherrangigen Rechts eingehalten sind.

5. Die tatbestandlichen Voraussetzungen aus § 137 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB V für die Erhöhung der Mindestmenge für die Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.250g liegen nicht vollständig vor. Es lässt sich nicht mit notwendiger Sicherheit feststellen, ob die Qualität der Versorgung dieser Früh- und Neugeborenen in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängt. Die hierfür erforderliche Gewissheit könnte nur durch belastbare wissenschaftliche Belege erbracht werden, die unter Beachtung üblicher methodischer Standards der medizinischen Wissenschaft beweisen, dass die nach der gesetzlichen Wertung zugrunde zu legende Vermutung für einen Zusammenhang von Quantität und Qualität stärker als üblich besteht und eine nennenswerte, greifbare und patientenrelevante Beziehung zwischen Menge und Qualität existiert. Denkbar ist hier vor allem ein evidenz-basierter Nachweis über kontrollierte Studien.

6. Gemesen hieran liegen ausgehend vom Abschlussbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vom 14. August 2008 und aufgrund des Umstandes, dass bisher keine Begleitevaluation stattgefunden hat, um die Auswirkungen der Einführung einer Mindestmengenregelung adäquat zu erfassen, hinreichende wissenschaftliche Belege für eine besonders starke Abhängigkeit der Ergebnisqualität von der Leistungsmenge für den Bereich der Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.250g nicht vor.

7. Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Festlegung der Mindestmengen für Perinatalzentren getroffene Unterscheidung zwischen Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.250g und Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von 1.250g bis 1.499g ist ermessensfehlerhaft, da es hierfür kein sachliches Differenzierungskriterium gibt. Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht zwischen 1.000g und 1.499g müssen im Sinne der Qualitätssicherung stets als gleich schutzwürdig angesehen werden.

 

Orientierungssatz

Parallelentscheidung zum Urteil des LSG Berlin-Potsdam vom 21.12.2011 - L 7 KA 77/10 KL, das vollständig dokumentiert ist.

 

Normenkette

SGB V § 137 Abs. 3 S. 1 Nr. 2; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 1

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Beklagten vom 17. Juni 2010 insoweit rechtswidrig und damit nichtig ist, als er unter I. Nr. 1 die Mindestmenge für Perinatalzentren des Level 1 (Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250g) mit Wirkung vom 1. Januar 2011 von 14 auf 30 Fälle erhöht

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin ist Trägerin des Städtischen Klinikums B.... Sie wendet sich gegen die Heraufsetzung der Mindestmenge für Perinatalzentren des Level 1 von 14 auf...

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