Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen RF. Ermäßigung des Rundfunkbeitrags. Ausschluss der Veranstaltungsteilnahme. psychische Erkrankung. Agoraphobie. Meidung von Menschenansammlungen
Orientierungssatz
1. Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens RF - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw ab 1.1.2013 Ermäßigung der Rundfunkbeitragspflicht - hat derjenige Schwerbehinderte mit einem GdB von 80, der wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann.
2. Als öffentliche Veranstaltungen sind Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Der Schwerbehinderte muss praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden sein (vgl BSG vom 17.3.1982 - 9a/9 RVs 6/81 = BSGE 53, 175 = SozR 3870 § 3 Nr 15).
3. Ein ständiger Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen kann auch bei Vorliegen psychischer Erkrankungen gegeben sein. Hierzu zählen ua Ängste und Phobien, verbunden mit Panikstörungen oder schwere Persönlichkeitsstörungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die dazu führen, dass Menschenansammlungen weitestgehend gemieden werden (vgl BSG vom 16.2.2012 - B 9 SB 2/11 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 14).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. November 2010 geändert.
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2009 in der Fassung des Bescheides vom 28. Juni 2010 verpflichtet, zugunsten der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “RF„ ab dem 26. Juni 2009 festzustellen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und die weitergehende Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 1/3 zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. ab dem 1. Januar 2013 Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht) und “B„ (Notwendigkeit ständiger Begleitung).
Die 1961 geborene Klägerin war zuletzt bis 1994 als Briefsortiererin bei der Deutschen Post beschäftigt und bezieht seit Beendigung dieser Tätigkeit eine inzwischen unbefristete Rente wegen Erwerbsminderung.
Mit letztem bestandskräftigem Bescheid vom 9. August 2007 ist zugunsten der Klägerin ein GdB von 70 festgestellt worden. Die Zuerkennung der Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), “B„ und “RF„ lehnte der Beklagte indes ab.
Den Verschlimmerungsantrag vom 26. Januar 2009, mit dem sie wiederum die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ geltend machte, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30. April 2009 ab. Eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Voraussetzungen, die zu einer Erhöhung des GdB führen würde, sei nicht gegeben. Aufgrund der Funktionsbeeinträchtigungen
Konversionsneurose mit psychosomatischen Störungen (Einzel-GdB 50)
Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung (Einzel-GdB 30)
Wirbelsäulenleiden (Einzel-GdB 20)
Darmpolypen, gastrointestinale Mykose (Einzel-GdB 10)
Chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB 10)
Chronische Bronchitis (Einzel-GdB 10)
Gallensteinleiden (Einzel-GdB 10)
sei unverändert ein GdB von insgesamt 70 gegeben. Weder könne das Merkzeichen “G„ noch könnten andere Merkzeichen zuerkannt werden. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin vom 26. Mai 2009, in dem die Klägerin u. a. darauf verwies, dass sie “keine GEZ-Befreiung„ beantragen könne, wies der Beklagte nach Begutachtung der Klägerin durch die Ärztin Dr. L-F aufgrund deren Gutachten vom 5. September 2009 mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2009 zurück. Auch eine Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ scheide aus.
Die Klägerin hat am 24. November 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung eines höheren GdB sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen “G„ und “RF„ geltend gemacht hat.
Nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte hat der Beklagte den versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Fachärztin für Chirurgie Dr. H vom 29. April 2010 und des Facharztes für Allgemeinmedizin K vom 2. Juni 2010 folgend mit Bescheid vom 28. Juni 2010 einen GdB von 80 ab Dezember 2009 anerkannt. Er hat darin die Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung mit einem Einzel-GdB von 40 (ab Januar 2009) und das Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 30 (ab Dezember 2009) bewertet. Das darin zum Ausdruck kommende Teilanerkenntnis hat die Klägerin am 23. Juli 2010 sinngemäß angenommen.
Die darüber hinausgehende Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtbescheid vom 30. November 2010 abgewiesen. Die Klägerin habe k...