Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Pflegegeld. Leistungen vor Antragstellung. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Pflichtverletzung des Hausarztes. Benachrichtigungspflicht gem § 7 Abs 2 S 2 SGB 11. Zurechenbarkeit

 

Orientierungssatz

Zur Frage, ob ein Pflegebedürftiger gegenüber der Pflegekasse einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend machen kann, wenn sein Hausarzt die sich aus § 7 Abs 2 S 2 SGB 11 ergebende Benachrichtigungspflicht verletzt und dem Pflegebedürftigen hierdurch ein Schaden entsteht.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. November 2008 geändert sowie die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. Oktober 2004 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2005 verurteilt, der Klägerin aus der Versicherung des S Pflegegeld der Stufe III für den Zeitraum vom 1. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2003 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu 2/3 zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Pflegegeld aus der Pflegeversicherung des 2004 verstorbenen Versicherten S.

Die Klägerin ist Ehefrau des Versicherten, mit dem sie in einem gemeinsamen Haushalt lebte und den sie bis zu dessen Tod pflegte. Am 6. Januar 2004 ging dessen Antrag auf Pflegeleistungen vom 5. Januar 2004 bei der Beklagten ein. Die Klägerin führte im Schreiben vom 30. Juni 2004 an die Beklagte aus, dass der Gesundheitszustand ihres Mannes sich ab Oktober 2003 verschlimmert habe. Dessen Hausärztin M habe ihr zugesichert, dass Anspruch auf Pflegeleistungen bestanden habe. Im MDK-Gutachten nach Aktenlage vom 20. August 2004 bejahte Dr. B die Pflegebedürftigkeit des Versicherten; die Entscheidung über die Pflegestufe müsse durch die Pflegekasse erfolgen.

Daraufhin gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 26. Oktober 2004 Pflegegeld der Pflegestufe II für den Zeitraum vom 5. Januar 2004 bis zum 1. Februar 2004. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch: Sie sei auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob der Antrag bereits im August 2003 gestellt worden sei. Denn der Hausärztin sei die Pflegebedürftigkeit des Versicherten bekannt gewesen, der eingewilligt habe, dass sie die Beklagte hiervon unverzüglich benachrichtige. Das Versäumnis der Hausärztin sei der Beklagten zuzurechnen. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch begründe sich daneben darauf, dass der Versicherte sich ab August 2004 mehrfach fernmündlich an die Pflegekasse zu wenden versucht habe, die jedoch wegen der Fusion der Beklagten zur C KK nicht erreichbar gewesen sei. Ferner reichte sie das Attest der Hausärztin vom 15. Dezember 2004 ein, in welchem diese berichtete, dass der Versicherte wegen dessen progredienten Tumorleidens ab Oktober 2003 einer Pflege rund um die Uhr bedurft habe.

In einem Aktenvermerk vom 26. April 2005 über das Telefongespräch des Sachbearbeiters der Beklagten mit der Hausärztin heißt es: Von einer Einwilligung des Verstorbenen mit der Benachrichtigung der Pflegekasse durch sie wisse sie nichts. Eine Vollmacht habe sie niemals erhalten; auch sei hierüber nicht gesprochen worden. Im Gegenteil habe die Klägerin ihr gegenüber geäußert, dass sie sich selbst um eventuelle Pflegeansprüche kümmern werde. Dieser Darstellung widersprach die Klägerin: Als sie sich an die Hausärztin gewandt habe, habe diese ihr mitgeteilt, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, da sie für die Pflege des Ehemannes Pflegegeld der Stufe I erhalten werde und hierdurch abgesichert sei.

Auf der Grundlage des MDK-Gutachtens nach Aktenlage vom 23. Mai 2005, wonach wegen der fortgeschrittenen Tumorerkrankung des Versicherten von einem erhöhtem Pflegebedarf rund um die Uhr ausgegangen werden müsse, gewährte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 1. Juni 2005 die Pflegestufe III für den Zeitraum vom 5. Januar 2004 bis zum 1. Februar 2004. Hinsichtlich der übrigen Zeiten wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 2005 zurück.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin Pflegegeld der Stufe III, hilfsweise der Stufe II, für den Zeitraum vom 1. August 2003 bis zum 31. Dezember 2003 sowie Pflegegeld der Stufe III für die Zeiträume vom 1. Januar 2004 bis zum 4. Januar 2004 und vom 2. Februar 2004 bis zum 29. Februar 2004 begehrt. Auf Befragen des Gerichts zu den Umständen des Gesprächs mit der Hausärztin hat die Klägerin schriftsätzlich erklärt: Sie habe die Hausärztin im Zeitraum vom 1. August 2003 bis September 2003 zu einer Unterredung aufgesucht und ihr berichtet, dass sie wegen der Pflege des Versicherten ihren Sprachkurs abbrechen müsse. Die Hausärztin habe darauf unmissverständlich geäußert, sie solle sich keine Sorgen machen, da sie Anspruch auf...

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