Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aktivlegitimation. Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer. Entschädigungsanspruch eines SGB II-Leistungsbeziehers. kein Anspruchsübergang auf den Grundsicherungsträger nach § 33 SGB 2 bis zur rechtskräftigen Zuerkennung der Entschädigung. konventionskonforme Auslegung von § 198 Abs 5 S 3 GVG. Ermittlung der Überlänge. einmonatige Überlegungs- und Bearbeitungszeit für Schriftsätze mit einem Umfang von 1,5 Seiten. Effektiver Rechtsschutz. Inaktivität des Gerichts. Prozesszinsen
Leitsatz (amtlich)
1. Aktivlegitimation eines Beziehers von Leistungen nach dem SGB II im Entschädigungsverfahren.
Es kann dahinstehen, ob
- ein Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG anrechenbares Einkommen im Sinne des § 11 SGB II darstellt und
- ob Entschädigungsleistungen "rechtzeitig" im Sinne des § 33 Abs 1 S 1 SGB II zu erbringen wären.
Denn jedenfalls bis zur rechtskräftigen Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs wegen unangemessener Verfahrensdauer schließt § 198 Abs 5 S 3 GVG einen Übergang dieses Anspruchs eines nach dem SGB II Leistungsberechtigten auf den Grundsicherungsträger aus.
2. § 33 Abs 1 S 3 SGB II muss bei europarechtskonformer Auslegung hinter § 198 Abs 5 S 3 GVG zurücktreten.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 1 vgl LSG Chemnitz vom 29.3.2017 - L 11 SF 17/16 EK; aA LSG Celle-Bremen vom 22.9.2016 - L 15 SF 21/15 EK AS.
2. Während Schriftsätze (ua auch Klageerwiderungen) mit einem Umfang von mindestens 1,5 Seiten auch dann eine einmonatige Überlegungs- und Bearbeitungszeit des Gerichts auslösen können, wenn sie lediglich vom Gericht zur Kenntnis genommen und dem Gegner (ggf zur Stellungnahme) weitergeleitet werden, reichen kurze Stellungnahmen hierfür in der Regel nicht aus.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1, 2 S. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 Sätze 1, 3, § 200 S. 1; SGB II § 33 Abs. 1 Sätze 1, 3; EMRK Art. 6 Abs. 1, Art. 13; BGB § 288 Abs. 1, § 291 S. 1
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin unter den Aktenzeichen S 38 AS 14127/12 und S 99 AS 14127/12 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2.900,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 22. Mai 2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 3/10 der Kosten des Verfahrens, der Beklagte 7/10.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger begehrt die Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin unter den Aktenzeichen S 38 AS 14127/12 bzw. S 99 AS 14127/12 geführten und zwischenzeitlich abgeschlossenen Klageverfahrens. Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger, der bereits damals von seinem jetzigen Prozessbevollmächtigten vertreten wurde, wandte sich mit seiner am 31. Mai 2012 zunächst per Fax beim Sozialgericht (SG) Berlin eingegangenen Klage gegen den Sanktionsbescheid des Jobcenter M (JC) - der Beklagte des Ausgangsverfahrens - vom 02. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Mai 2012, mit welchem sein Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit vom 01. März bis zum 31. Mai 2012 um monatlich 112, 20 € gemindert worden war. Gleichzeitig beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) sowie die Gewährung von Akteneinsicht unter Ankündigung weitergehenden Vortrags nach Akteneinsicht. Am Folgetag ging das Original der Klageschrift samt Unterlagen zur PKH beim Sozialgericht ein. Das Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen S 38 AS 14127/12 registriert. Am 12. Juni 2012 bestätigte das Sozialgericht den Klageeingang und forderte das JC auf, die Akten zu übersenden. Nach Eintreffen der Leistungsakten 16 Tage später gewährte das Gericht dem Kläger am 04. Juli 2012 Akteneinsicht, welche sechs Tage später genommen wurde. Am 11. Juli 2012 traf die weitergehende Klagebegründung ein, die wenige Tage später dem JC zur Stellungnahme zugeleitet wurde. Letztere ging am 29. August 2012 vorab per Fax beim Sozialgericht ein und wurde aufgrund der richterlichen Verfügung vom 28. September 2012 am 01. Oktober 2012 ihrerseits der Klägerseite zur Stellungnahme zugeleitet. Es schloss sich im Verlaufe des gesamten Monats Oktober 2012 ein reger Schriftsatzwechsel der Beteiligten an. Die letzte Stellungnahme des JC traf am 14. November 2012 ein.
Mit Beschluss vom 01. Februar 2013 bewilligte das Sozialgericht dem Kläger PKH. Gleichzeitig richtete der Kammervorsitzende eine Anfrage an das JC und verfügte den Rechtsstreit in das so genannte “EÖT-Fach„. Am 05. März 2013 ging die kurze Antwort des JC ein, welche umgehend an den Kläger zur Kenntnis und freigestellten Stellungnahme übersandt wurde. Die Verfügung “EÖT-Fach„ wurde erneuert. Am 14. März 2013 ging eine 1,5 Seiten lange Stellungnahme des Klägers mit rechtlichem Vortrag ein, die vier Tage später dem JC zur Stellungnahme ohne Setzung einer Frist zugeleitet wurde. Gleichzeitig wurde die Sache wieder in das “EÖT-Fach„ verfügt. Nachdem am 03. M...