Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Pflicht zur Durchführung eigener ärztlicher Untersuchungen durch die Verwaltung. keine Sachverhaltsaufklärung vom Schreibtisch aus. versorgungsärztlicher Dienst. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. sozialgerichtliches Verfahren. Zurückverweisung an die Verwaltung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Sind Statusfeststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht im Streit, darf sich die Behörde bei der Aufklärung des Sachverhalts nicht grundsätzlich darauf beschränken, Befundberichte behandelnder Ärzte einzuholen und die vorliegenden ärztlichen Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst auszuwerten.

2. Behördliche Sachverhaltsermittlungen vom Schreibtisch aus sind in dem durch medizinische Fragen geprägten Gebiet des Schwerbehindertenrechts in der Regel nicht ausreichend. Der versorgungsärztliche Dienst hat in solchen Fällen regelmäßig eigene ärztliche Untersuchungen vorzunehmen.

3. Der versorgungsärztliche Dienst kann ärztliche Untersuchungen zum Zwecke der medizinischen Sachverhaltsaufklärung in der Regel schneller und effizienter als ein Gericht durchführen, das regelmäßig auf die Einholung externer medizinischer Sachverständigengutachten angewiesen ist.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. März 2012 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in der Sache über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Die 1963 geborene Klägerin beantragte bei dem Beklagten am 8. Februar 2011 die Feststellung eines GdB. Hierbei machte sie als Beeinträchtigungen u.a. ein Wirbelsäulenleiden, Depressionen und eine Hauterkrankung geltend. Der Beklagte holte Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. H, der Hautärztin Dr. L und der Orthopädin Dr. S sowie den Entlassungsbericht des Reha-Klinikums H über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 27. September bis zum 22. Oktober 2010 ein. Weitere Ermittlungen nahm er nicht vor.

Dem versorgungsärztlichen Vorschlag folgend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 27. Mai 2011 bei der Klägerin einen GdB von 30 fest. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

- psychische Minderbelastbarkeit (10),

- Funktionsstörung der Wirbelsäule (30).

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte ohne weitere Ermittlungen mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2011 zurück.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von 50 begehrt. In der mündlichen Verhandlung hat sie angegeben, dass bei ihr auch eine Harninkontinenz bestehe, deretwegen sie sich in urologischer Behandlung befinde.

Das Sozialgericht, dem die Schwerbehindertenakte am 25. November 2011 zugegangen ist, hat mit Urteil vom 6. März 2012 unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide den Beklagten verurteilt, über den Feststellungsantrag der Klägerin erneut zu entscheiden. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 131 Abs. 5 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien erfüllt, da der Beklagte im Feststellungs- und im Widerspruchsverfahren notwendige Ermittlungen erheblichen Umfangs unterlassen habe. Es seien fachärztliche Begutachtungen der Klägerin auf psychiatrischem, orthopädischem und dermatologischem Gebiet geboten gewesen. Auch habe der Beklagte der im Klageverfahren vorgetragenen Harninkontinenz der Klägerin nachzugehen. Die notwendigen Ermittlungen seien hinsichtlich des Zeitaufwands, des Umfangs und der Kosten erheblich. Auch unter Berücksichtigung des Interesses der Klägerin an einer möglichst raschen Erledigung des Rechtsstreits halte die Kammer eine Zurückverweisung an die Verwaltung für angemessen, da bei einer Durchführung der erforderlichen Ermittlungen durch das Gericht nicht nur mit höheren Kosten, sondern mit einer längeren Bearbeitungsdauer als bei der Erledigung durch den Beklagten zu rechnen sei.

Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung eingelegt, mit der er im Wesentlichen vorbringt, dass die erforderlichen Ermittlungen nicht erheblich seien. Auch sei er nicht in der Lage, die Sachverhaltsaufklärung schneller als das Sozialgericht durchzuführen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. März 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige...

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