Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Aktivlegitimation von Grundsicherungsempfängern. Verzögerungsrüge. keine Begründungspflicht. konkrete Benennung des Aktenzeichens des Ausgangsverfahrens. keine Hinweispflicht des Gerichts bei Unzulässigkeit. Angemessenheitsprüfung. Antrag auf mündliche Verhandlung nach Gerichtsbescheid. zusätzliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 3 Monaten. keine Aufspaltung des Ausgangsverfahrens bei parallel geführter Nichtzulassungsbeschwerde. regelmäßige Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 6 Monaten für Nichtzulassungsbeschwerde. Verzögerungen durch fehlende bzw fehlerhafte Angabe des Aktenzeichens. Verzögerungen durch Aktenübersendung
Leitsatz (amtlich)
§ 198 GVG idF des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV, juris: ÜberlVfRSchG).
Umgang mit Verzögerungen, die auf die fehlende/fehlerhafte Angabe eines gerichtlichen Aktenzeichens zurückgehen.
Vorbereitungs- und Bedenkzeiten in einem Verfahren, das aufgrund der Einlegung mehrerer Rechtsbehelfe teilweise parallel in zwei Instanzen, teilweise parallel in mehreren Senaten geführt wird.
Förmliche und inhaltliche Anforderungen an eine Verzögerungsrüge.
Orientierungssatz
1. Im Falle einer Entscheidung des Sozialgerichts durch Gerichtsbescheid und eines sich anschließenden Antrags auf mündliche Verhandlung sind die im folgenden Verfahrensabschnitt auftretenden Phasen der gerichtlichen Inaktivität regelmäßig im Umfang von bis zu drei Monaten entschädigungsrechtlich unbeachtlich und auf die den Gerichten ansonsten zustehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeiten nicht anzurechnen.
2. Für Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vor dem LSG ist eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit regelmäßig von sechs Monaten angemessen (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 25.2.2016 - L 37 SF 128/14 EK AL).
3. Eine Verzögerungsrüge braucht nicht begründet zu werden. § 198 Abs 3 S 3 iVm S 4 GVG führt lediglich zur Präklusion nicht rechtzeitig genannter besonderer Umstände.
4. Verzögerungsrügen können nicht ohne Benennung von Aktenzeichen in Sammelschreiben an das Gericht angebracht werden, sondern es ist jedes einzelne in einem Spruchkörper anhängige Verfahren konkret zu benennen.
5. Im Falle einer unzureichenden Verzögerungsrüge besteht für das Ausgangsgericht keine Hinweispflicht gegenüber dem Betroffenen nach § 139 Abs 2 und Abs 3 ZPO.
6. Verzögerungen in Form von Aktenübersendungen, die auf - auch zulässiges - Prozessverhalten des Klägers zurückzuführen sind (hier: Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde und einer Entschädigungsklage im laufenden Verfahren), sind seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen.
7. Ein Rechtsschutzsuchender hat es nicht in der Hand, durch die Art der Einlegung von Rechtsmitteln (hier: Nichtzulassungsbeschwerde gegen einen Gerichtsbescheid und nachträglicher Antrag auf mündliche Verhandlung) aus einem Verfahren mehrere zu machen. Maßgebend für die Bestimmung des Ausgangsverfahrens bleibt allein der verfolgte prozessuale Anspruch.
8. Ansprüche nach § 198 GVG gehen - jedenfalls während eines Entschädigungsklageverfahrens - nicht gemäß § 33 Abs 1 S 1 SGB 2 auf den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 25.1.2018 - L 37 SF 69/17 EK AS; so auch LSG Chemnitz vom 29.3.2017 - L 11 SF 17/16 EK AS; entgegen LSG Celle-Bremen vom 22.9.2016 - L 15 SF 21/15 EK AS).
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg letztlich unter dem Aktenzeichen L 18 AS 724/13 abgeschlossenen Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2.100,00 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 80 % und im Übrigen der Kläger zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 2.700,00 € wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 3/13 geführten und beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg nach Einlegung einer Berufung, hilfsweise einer Nichtzulassungsbeschwerde zuletzt zum einen unter dem Aktenzeichen L 18 AS 676/13 NZB, zum anderen unter dem Aktenzeichen L 18 AS 724/13 bearbeiteten Verfahrens. Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger - ein Volljurist - stand über mehrere Jahre im Leistungsbezug des Jobcenters Landeshauptstadt Potsdam, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens. Mit Bescheid vom 02. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2010 hob dieser für die Monate März bis Juli 2010 eine vorangegangene Leistungsbewilligung teilweise in Höhe von je 25,08 € wegen - in Form von Mieteinnahmen - erzielten Einkommens auf und forderte die Erstattung von insgesamt 125,40 €. Hiergegen erhob der Kläger am 30. November 2010 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam, die zunächst unter dem Aktenzeiche...