Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. AMRL. Änderung oder Wegfall der Ermächtigungsnorm ändert nicht per se deren Rechtswirksamkeit. Bindungswirkung der ATC-Klassifikation eines Arzneimittels (hier: Otovowen® als Otologikum). Frage nach Nutzen und Zweckmäßigkeit eines Arzneimittels steht eigenständig neben der arzneimittelrechtlichen Zulassung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Änderung oder der Wegfall der Ermächtigungsgrundlage einer untergesetzlichen Norm berühren nicht per se deren Rechtswirksamkeit; so werden auch die Detailregelungen der Arzneimittel-Richtlinien nicht durch jede Korrektur des Gesetzgebers am Wortlaut der Ermächtigungsnorm gegenstandslos.
2. Die ATC-Klassifikation eines Arzneimittels nach § 73 Abs 8 SGB 5 entfaltet rechtliche Bindungswirkung für seine begriffliche Einordnung (hier: oral zu verabreichendes Otovowen® als "Otologikum").
3. Die arzneimittelrechtliche Zulassung eines Arzneimittels folgt anderen Erfordernissen als seine krankenversicherungsrechtliche Nutzenbewertung.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Verordnungsfähigkeit von Otovowen® für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für versicherte Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen und Herstellerin des apothekenpflichtigen und verschreibungsfrei erhältlichen homöopathischen Kombinationsarzneimittels Otovowen®.
Das Anwendungsgebiet von Otovowen® ist laut der Fachinformation (Stand 08/2012) wie folgt umschrieben: “Die Anwendungsgebiete leiten sich von den homöopathischen Arzneimittelbildern ab, dazu gehört: Besserung der Beschwerden bei Mittelohrentzündung, Schnupfen.„ Otovowen® ist in flüssiger Tropfenform oral einzunehmen.
Je 10 ml enthält Otovowen® zehn arzneilich wirksame Bestandteile:
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Aconitum napellus Dil. D6 0,075 ml |
Capsicum annuum Dil. D4 0,075 ml |
Chamomilla recutita Ø 0,225 ml |
Echinacea purpurea Ø 0,75 ml |
Hydrargyrum bicyanatum Dil. D6 0,075 ml |
Hydrastis canadensis Dil. D4 0,075 ml |
Iodum Dil. D4 0,075 ml |
Natrium tetraboracicum Dil. D4 0,075 ml |
Sambucus nigra Ø 0,225 ml |
Sanguinaria canadensis Ø 0,075 ml |
Als nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel ist Otovowen® grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Dieser gesetzliche Ausschluss gilt indessen nicht für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen (§ 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V).
Nach Nr. 38 der Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in der seit 1. April 2009 geltenden Fassung (Beschluss des Beklagten vom 18. Dezember 2008/22. Januar 2009) i.V.m. § 16 Abs. 1 bis 3 der AM-RL sind von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung allerdings ausgeschlossen
“Otologika - ausgenommen Antibiotika oder Corticosteroide bei Entzündungen des äußeren Gehörganges„.
In den tragenden Gründen zum Beschluss des Beklagten über die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Neufassung der AM-RL vom 13. März 2008 heißt es dazu:
“Bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist von der genannten Ausnahme abgesehen eine Verordnung auch für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen unwirtschaftlich. Mittel- und/oder Innenohrentzündungen sind durch externe Applikation nicht behandelbar, da sie nicht in die Paukenhöhle eindringen (z.B. Patientenleitlinie zur Mittelohrentzündung des medizinischen Netzwerkes www.evidence.de der Universität Witten/Herdecke).„
Mit Beschluss vom 19. Mai 2011 änderte der Beklagte Nr. 38 der Anlage III der AM-RL, die seitdem folgenden Wortlaut hat:
“Otologika
- ausgenommen Antibiotika und Corticosteroide auch in fixer Kombination untereinander zur lokalen Anwendung bei Entzündungen des äußeren Gehörganges
- ausgenommen Ciprofloxacin zur lokalen Anwendung als alleinige Therapie bei chronisch eitriger Entzündung des Mittelohrs mit Trommelfelldefekt (Trommelfellperforation)„
Der Beklagte vertritt die Auffassung, dass auch Otovowen® als oral einzunehmendes Arzneimittel und Homöopathikum ein Otologikum in diesem Sinne sei und daher auch für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen ein vollständiger Verordnungsausschluss gelte. Diese Auffassung vertreten auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband.
Ein von der Klägerin insoweit gegen die Kassenärztliche Bundesvereinigung geführtes Eilverfahren mit dem hiesigen Beklagten als Beigeladenem (Sozialgericht Berlin, S 71 KA 441/09 ER, Beschluss vom 17. August 2009) hatte keinen Erfolg. Darin hatte die Klägerin begehrt, es der Kassenärztlichen B...