Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. Ruhen des Ausgangsverfahrens. Wegfall des Ruhensgrundes. Zurechnung der Verzögerungszeit. Verantwortungsbereich des Gerichts. Kontrollmechanismen. regelmäßige Wiedervorlagen -Wiedergutmachung auf andere Weise. gerichtliche Feststellung der Überlänge des Verfahrens. verzögerndes Prozessverhalten. keine Information des Gerichts. verspätete Stellung eines Wiederaufnahmeantrags

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Verfahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vorlag, fallen zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts und sind somit dem Staat zuzurechnen.

2. Das Verhalten der Beteiligten, das ggf darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen (vgl BVerfG vom 5.8.2013 - 1 BvR 2965/10 = NJW 2013, 3432 = juris RdNr 25; EGMR vom 11.1.2007 - 20027/02 = NVwZ 2008, 289 = juris RdNr 78).

3. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßige Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Wegfall folgenden Monat.

4. Der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie - obwohl ihnen der Wegfall des Ruhensgrundes bekannt war - das Gericht hierüber nicht informiert haben, kann bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetretenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs 2 S 2 und Abs 4 GVG in Betracht kommt.

 

Orientierungssatz

Teilweise parallel zur Entscheidung des LSG Berlin-Potsdam vom 28.1.2022 - L 37 SF 266/19 EK AS.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 30.03.2023; Aktenzeichen B 10 ÜG 4/22 B)

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass das vor dem Sozialgericht P zunächst unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14 und zuletzt unter dem Aktenenzeichen S 24 AS 1294/19 WA geführte Klageverfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt ein Drittel, der Kläger zwei Drittel der Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) P zunächst unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14 und zuletzt unter dem Aktenenzeichen S 24 AS 1294/19 WA geführten Verfahrens.

Der Kläger ist Volljurist und bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Zwischen 2009 und 2019 führte er eine Vielzahl von sozialgerichtlichen Verfahren gegen das Jobcenter (JC) Landeshauptstadt Potsdam.

In dem Ausgangsverfahren wurde über die Höhe der Leistungen nach dem SGB II für die Zeiträume von Februar bis Juli 2012, August 2012 bis Januar 2013, Februar bis Juli 2013, August 2013 bis Januar 2014 sowie August 2014 bis Januar 2015 gestritten, u. a. im Hinblick auf die Berücksichtigung von Einnahmen aus Untermietverhältnissen als Einkommen.

Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

30.07.2014

· Eingang der Klageschrift vom selben Tag; Klage gerichtet auf die Aufhebung der Bescheide des JC vom 27.01.2012, 24.07.2012, 22.02.2013, 10.07.2013 und 08.07.2014, jeweils in der Gestalt eines Widerspruchsbescheids vom 28.07.2014, und Verurteilung des JC zur Neubescheidung der Weiterbewilligungsanträge „unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts“

· Registrierung der Klage unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14

04.08.2014

· Eingangsbestätigung

· Aufforderung an JC zur Klageerwiderung sowie zur Aktenübersendung („sofern nicht bereits vorhanden“) binnen 6 Wochen

· interne Wiedervorlage (WV): 8 Wochen

29.09.2014

WV des Verfahrens bei der Kammervorsitzenden, Verfristung um 1 Monat

03.11.2014

Erinnerung des JC an Klageerwiderung und Aktenübersendung, Frist: 2 Wochen

04.11.2014

· Eingang des Schriftsatzes des JC vom Vortag mit der Bitte um Rückübersendung der Akten zum Zwecke der Vervollständigung

· Vermerk der Geschäftsstelle: „5 VA ging am 26.06.2014 in S 41 AS 422/14 zur Beklagten (wg. Ruhen des Verfahrens)“

07.11.2014

(ab: 24.11.2014)

Hinweis an JC, dass sich der Verwaltungsvorgang dort befinden müsste

08.12.2014

WV des Verfahrens bei der Kammervorsitzenden; Verfügung: „z. F. von S 41 AS 422/14“

29.12.2014

Eingang der Klageerwiderung des JC vom 23.12.2014 mit Bezugnahme auf den Inhalt des Verwaltungsvorgangs und die Ausführungen in den Widerspruchsbescheiden; beigefügt als Anlage: 5 Bände Verwaltungsakten

02.01.2015

Weiterleitung an Kläger zur Kenntnisnahme

01/2015

Abgabe des Verfahrens an die 24. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 01/2015; neues Aktenzeichen S 24 AS 1837/14

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