Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Zulässigkeit der mündlichen Antragstellung bei Grundsicherungsleistungen. Bedeutung des Zuflusszeitpunkts für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen bei Zufluss eines Geldbetrages an einen Grundsicherungsempfänger
Orientierungssatz
1. Ein Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende kann auch mündlich gestellt werden. Dabei ist der Zeitpunkt der Antragstellung als der Zeitpunkt, ab dem ein Leistungsbezug angestrebt wird, ggfs. durch Auslegung zu ermitteln.
2. Ein Geldbetrag (hier: Insolvenzgeld), der einem Empfänger von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende vor Antragstellung und damit dem Beginn des Bewilligungszeitraums zufließt, stellt bei der Ermittlung des Hilfebedarfs Vermögen dar und ist demgemäß nicht als Einkommen anzurechnen.
3. Einzelfall zur Auslegung eines mündlich gestellten Antrags auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2016 aufgehoben und der Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 25. und 26. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2013 verurteilt, dem Kläger für Juni 2013 Leistungen in Höhe von 206,45 € und für die Zeit vom 1. Juli 2013 bis 31. August 2013 weitere Leistungen in Höhe von monatlich 829,67 € nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - zu bewilligen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens in vollem Umfang und zwei Drittel der Kosten des Klageverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1977 geborene Kläger bewohnt eine Wohnung, für die er für die Zeit ab 1. November 2012 eine monatliche Miete von insgesamt 427,87 € (Grundmiete: 281,34 €, Betriebskostenvorauszahlung: 96,31 €, Heizkostenvorauszahlung: 50,22 €) zu zahlen hatte.
Ab 1. Januar 2012 war der Kläger bei der P Group als Produktmanager beschäftigt. Nach dem die vereinbarten monatlichen Gehaltszahlungen in Höhe von (iHv) 5.500 € brutto ausgeblieben waren, stellte er im Mai 2012 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) einen Insolvenzgeldantrag und kündigte das Arbeitsverhältnis fristlos zum 31. Mai 2012.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2012 bewilligte die Agentur für Arbeit Berlin Mitte dem Kläger Arbeitslosengeld (Alg) für 360 Tage ab 1. Juni 2012 und setzte für Zeit vom 15. Juni 2012 bis 14. Juni 2013 einen täglichen Leistungsbetrag von 45,83 € fest. Für die Zeit vom 1. Juni 2012 bis 14. Juni 2012 wurde der Leistungsbetrag auf 0,- € festgesetzt. Auf seinen Antrag vom 24. Mai 2012 bewilligte der Beklagte dem Kläger in Kenntnis des Bescheides vom 26. Juni 2012 und unter Anrechnung des bewilligten Alg mit Bescheid vom 6. August 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. Mai 2012 bis 30. Juni 2012. Ebenfalls mit Bescheid vom 6. August 2012 wurde der Antrag auf SGB II- Leistungen für die Zeit ab 1. Juli 2012 unter Hinweis auf das anzurechnende Einkommen (Alg iHv monatlich 1374,90 €) abgelehnt.
Mit Bescheid vom 10. Mai 2013 bewilligte die BA dem Kläger Insolvenzgeld (Insg) iHv 10.825,39 €. Nach Abzug eines Vorschusses iHv 4.000,- € und eines vom Beklagten geltend gemachten Erstattungsbetrages iHv 836,38 € wurde dem Kläger am 15. Mai 2013 ein Betrag iHv 5.989,01 € überwiesen.
Am 28. Mai 2013 sprach der Kläger persönlich bei dem Beklagten vor. Hierüber wurde von der Mitarbeiterin C des Beklagten u.a. Folgendes vermerkt:
“Alg II Antragstellung als RKW….Letzter Alg II Bezug: 05/2012 … BG-Nr. wird wieder aktiviert…. Alg I wird voraussichtlich bis 14.06.13 gezahlt. Weitere Einkünfte werden verneint.„
Am 10. Juni 2013 reichte der Kläger die ausgefüllten und von ihm unterschriebenen Vordrucke für einen Antrag auf Arbeitslosengeld II (Alg II) ein, darunter auch die von ihm unter dem 6. Juni 2013 unterschriebene “Wahrheitsgemäße Erklärung„, welche folgendermaßen lautete: “Vor meiner Antragstellung habe ich meinen Lebensunterhalt wie folgt bestritten: Alg I bis 14.06.2013„. Mit Bescheid vom 25. Juni 2013 lehnte der Beklagte für die Monate Mai und Juni 2013 den Alg II-Antrag ab, da der Kläger im Hinblick auf das zu berücksichtigende Einkommen aus Alg und Insg nicht hilfebedürftig sei. Mit Bescheid vom 26. Juni 2013 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Monate Juli bis Oktober 2013 Alg II iHv monatlich Leistungen iHv 18,40 €. Zur Begründung wurde ausgeführt, das am 15. Mai 2013 zugeflossene Insg werde als einmalige Einnahme angerechnet und auf sechs Monate mit einem Anrechnungsbetrag iHv 829,67 € verteilt. Mit seinem Widerspruch trug der Kläger vor, zur Deckung seiner Lebensunterhaltskosten habe er am 2. März 2013 bei seinen Eltern ein Darlehen aufgenommen und den Anspruch auf das Insg an die Darlehensgeber abgetreten. Das Insg sei deshalb nicht bedarfsmindernd anzurechnen. Es könne im Übrigen nicht sein, ...