Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens “G„ für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bei Taubheit
Orientierungssatz
Eine bestehende Hörbehinderung in Form von Taubheit begründet für sich genommen im Regelfall nur bei Kindern und Jugendlichen bis zum Erreichen des 16. Lebensjahres die Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens “G„ für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und “B„ (Notwendigkeit ständiger Begleitung).
Die am 1989 geborene Klägerin leidet an einer angeborenen Taubheit. Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter in Berlin und besuchte von August 2002 bis Juli 2006 die MSchule - Förderzentrum mit Schwerpunkt “Hören„ - (Bl. 66 BA) in Berlin. Seit August 2007 verfügt die Klägerin über einen zweiten Wohnsitz in Essen, wo sie an dem R Berufskolleg E (Förderschule) - Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation - (Bl.98 BA) im Jahre 2011 die Allgemeine Hochschulreife erlangte. Anschließend absolvierte die Klägerin eine Ausbildung zur Bürokauffrau.
Mit letztem bestandskräftigem Bescheid vom 1. November 1996 stellte der Beklagte aufgrund einer
Hörrestigkeit beiderseits (praktische Taubheit) und
audiogenen Sprachentwicklungsstörung
einen Grad der Behinderung (GdB) von unverändert 100 fest. Zugleich stellte der Beklagte (unverändert) das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “H„ (hilflos) und “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. seit dem 1. Januar 2013 Ermäßigung der Rundfunkbeitragspflicht) sowie (neu) der Merkzeichen “G„ und “B„ fest. Zugleich wurde empfohlen, ein Verkehrsschutzzeichen (VKS) zu benutzen.
Im Rahmen eines von Amts wegen am 24. Mai 2005 eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens holte der Beklagte einen ärztlichen Befundbericht des Arztes für Kinderheilkunde Dr. H vom 21. März 2006 ein. Mit Bescheid vom 21. März 2007 entzog der Beklagte der Klägerin nach deren Anhörung - unter Aufrechterhaltung seiner bisherigen Feststellungen im Übrigen - die Merkzeichen “G„ und “B„. Zugleich stellte er fest, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens “Gl„ (gehörlos) gegeben seien (mit dem Merkzeichen “Gl„ ist ebenfalls eine Freifahrt im ÖPNV aus Gründen der Aufrechterhaltung der Kommunikation verbunden). Den gegen den vorgenannten Bescheid erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. August 2008 zurück.
Die Klägerin hat am 15. September 2008 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt hat.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 28. September 2010 die Klage abgewiesen: Die auf § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) gestützte Entziehung der Merkzeichen “G„ und “B„ sei rechtmäßig. Im maßgeblichen Entziehungszeitpunkt - hier der letzten Behördenentscheidung: Widerspruchsbescheid vom 14. August 2008 - könne die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht mehr erfolgreich auf Störungen der Orientierungsfähigkeit gestützt werden. Soweit hierzu im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) eine Taubheit oder eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit genüge, habe die Klägerin das 17. Lebensjahr im Entziehungszeitpunkt vollendet. Soweit bei entsprechenden Hörstörungen im Erwachsenenalter die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ zudem das Vorliegen erheblicher Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) erfordere, lägen solche Störungen bei der Klägerin nicht vor. Die Klägerin habe sich ausreichende Kompetenzen zur Kommunikation (insbesondere durch Lesen und Schreiben) angeeignet, die die fehlende Orientierung über das Gehör ausglichen. Ein atypischer Fall, der die weitere Zuerkennung des Merkzeichens „G„ rechtfertige, liege nicht vor. Angesichts der bestehenden vollen Orientierungsfähigkeit der Klägerin sei diese bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch nicht (mehr) auf eine ständige Begleitung angewiesen; das Merkzeichen “B„ könne daher nicht weiterhin zuerkannt werden.
Gegen den ihr am 4. Oktober 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 2. November 2010 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Sie ist der Auffassung, dass bei Gehörlosen eine Störung der Ausgleichsfunktion gegeben sei. Die Kommunikationsmöglichkeit mit anderen sei so gut wie ausgeschlossen.
Zur weiteren Sachaufklärung hat der Senat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, des Facharztes für HNO-Heilkunde Dr. P vom 18. Juli 2013 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S vom 25. Juli 2013 beig...