Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Anspruch auf motorunterstütztes Rollstuhlzuggerät zur Erschließung des Nahbereichs bei nachlassender Armkraft aufgrund Multipler Sklerose

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Versorgungsanspruch eines an MS erkrankten mit einem Rollstuhlzuggerät in Form eines mit Elektromotor versehenen "Hand-Biker" zur Erschließung des Nahbereichs bei schneller Ermüdung der Armmuskulatur (Speedy Duo 2).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 4.6.2014 sowie der Bescheid vom 10.8.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.8.2013 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Handbike Speedy Duo 2 zu versorgen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten, bei der er krankenversichert ist, ein E-Handbike als Hilfsmittel beanspruchen kann.

Der Kläger ist 1954 geboren und gelernter Installateur, derzeitig halbtags beschäftigt in ausschließlicher Innentätigkeit. Er leidet an einer seit 2001 fortschreitenden Multiplen Sklerose (MS); die spastische Paraparese der Beine nimmt zu. Anfänglich konnte er noch mit einem Rollator gehen, seit 5 Jahren benötigt er einen Aktivrollstuhl, der ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellt wurde. Er kann selbstständig ein Kraftfahrzeug benutzen und hiermit den Aktivrollstuhl transportieren. Er benötigt Hilfe beim Bereitstellen des Hilfsmittels, nicht jedoch beim Transfer vom Fahrzeug in den Rollstuhl. Einmal pro Woche besucht er einen Physiotherapeuten.

Der Kläger schaffte sich auf eigene Kosten 2009 als Unterstützung für seinen Rollstuhl ein handbetriebenes Bike mit einer Handkurbel an. Wegen abnehmender Kraft testete er 2012 ein Handbike mit Motorunterstützung.

Über die Firma Sp. beantragte der Kläger unter Beifügung einer Hilfsmittelverordnung von Dr. E. am 1.8.2012 die Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät Speedy Duo 2, einem Hand-Bike mit Unterstützung durch einen Elektromotor. Der Kläger begründete die begehrte Versorgung mit diesem Hilfsmittel damit, dass seine Erkrankung fortschreite und er nach Tagesform mit seinem Aktivrollstuhl nur wenige 100 m fahren könne, dann eine Pause benötige, insbesondere in seinem bergigen Umfeld. Er könne dieses System ohne Schwierigkeiten alleine an seinen Rollstuhl an- und abkoppeln und hätte als positiven Nebeneffekt noch eine Unterstützung der Therapieerfolge durch das Armtraining. Das beigefügte Angebot belief sich über 5.459,64 € inklusive Zubehör.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10.8.2012 ab. Das Handbike stelle lediglich eine besondere Form des Antriebs dar, nutzbar vor allem im Bereich sportlicher Betätigung und Freizeitgestaltung. Nur bei Kindern bis 15 Jahren zähle die erweiterte Bewegungsmöglichkeit zum Grundbedürfnis, bei Erwachsenen nicht; diese hätten andere Möglichkeiten, Mobilität und Aktionskreis zu vergrößern. Wandern, Joggen oder Radfahren zähle nicht zur Erschließung oder Sicherung eines gewissen körperlichen Freiraums.

Im Widerspruchverfahren trug der Kläger vor, er benötige dieses Hilfsmittel zur Bewältigung von Wegstrecken wie zum Einkaufen von Lebensmitteln und mit diesem Hilfsmittel schaffe er die Möglichkeit, sich unabhängig von anderen frei zu bewegen. Aufgrund seiner Erkrankung könne er dies nicht mit reiner Muskelkraft, insbesondere nicht bei Steigungen.

Die Beklagte holte ein Gutachten des MDK, Dr. Sch., ein, welches am 5.11.2012 erstellt wurde. Die Sachverständige führte im Wesentlichen aus, die Bewegung für seine Gesundheit könne der Kläger auch mit dem Aktivrollstuhl verbessern. Außerdem verfüge er über einen Bewegungstrainer. Nach einem Pflegegutachten von 2010 werde das tägliche Einkaufen durch eine andere Person wahrgenommen und er könne auch das Gerät nicht ohne Hilfe anderer Personen handhaben. Bei erheblich geschwächter oder schnell ermüdender Muskulatur der Arme könne die Versorgungslücke auch mit einem Elektrorollstuhl (E-Rollstuhl) geschlossen werden.

Aufgrund dieses Gutachtens bot die Beklagte dem Kläger die Versorgung mit einem E-Rollstuhl an.

Nachdem der Kläger dieses Angebot mit der Begründung abgelehnt hatte, der E-Rollstuhl verfüge nicht über die Vorteile eines Zuggeräts, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.8.2013 den Widerspruch des Klägers zurück. Den Erfolg der Krankenbehandlung sichere auch die Physikalische Therapie wie Krankengymnastik und Ergotherapie; das Radfahren gehöre grundsätzlich nicht zu den Grundbedürfnissen.

Im Klageverfahren hat der Kläger die Argumentation wiederholt und vertieft. Er könne einen elektrisch angetriebenen Rollstuhl aufgrund des höheren Gewichts nicht handhaben, weder selbst in ein Fahrzeug unterbringen noch mit dem Rollstuhl die üblichen Wegstrecken oder Hindernisse bewältigen. Auf ebener Erde sei ein E-Rollstuhl tauglich, Bordsteine könne er aber nicht überq...

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