Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnungsgrund. Sozialhilfe nach längerer Aufenthaltsdauer. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer
Leitsatz (amtlich)
1. Eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts iS des § 2 Abs 1 AsylbLG setzt ein verschuldensgetragenes Fehlverhalten voraus. Allein eine fehlende freiwillige Ausreise unter (bloßer) Ausnutzung einer bestehenden Rechtsposition der Duldung reicht nicht aus, um ein solches Fehlverhalten zu bejahen. Eine Einreise ohne Pass und/oder Visum ist jedenfalls dann unschädlich, wenn keine falschen Angaben zur Person gemacht wurden und die Aufenthaltsdauer dadurch nicht beeinflusst wurde (zB weil eine Ausreise wegen Unruhen im Heimatland auch mit vollständigen Reisedokumenten nicht in Betracht gekommen wäre).
2. Einem Kind im Alter von unter 36 Monaten stehen Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG nicht zu.
3. Ein aktueller, vermehrter Integrationsbedarf kann eine besondere Eilbedürftigkeit begründen. Dann sind die höheren Analogleistungen bereits im einstweiligen Anordnungsverfahren zuzusprechen.
Orientierungssatz
Die Auslegung des § 2 Abs 1 AsylbLG anhand der Richtlinie EGRL 9/2003 gilt auch für die Ausländer, die keinen Asylantrag gestellt haben, aber aus sonstigen Gründen unter das AsylbLG fallen.
Tenor
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 2. März 2006 wird insoweit aufgehoben, als er die Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bezüglich des Antragstellers zu 6. insgesamt sowie bezüglich der Antragsteller zu 1. - 5. für die Zeiträume vom 1. Februar bis 5. Februar verpflichtet.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Außergerichtliche Kosten der Antragsteller sind auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Antragsteller streiten im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens um die Gewährung von Leistungen in entsprechender Anwendung des Zwölften Sozialgesetzbuches (SGB XII) aufgrund eines über 36-monatigen Bezuges von Leistungen nach dem AsylbLG gemäß § 2 AsylbLG.
Die Antragsteller stammen aus dem Kosovo und besitzen die jugoslawische Staatsangehörigkeit (jetzt Serbien und Montenegro); sie sind Angehörige der Volksgruppe der Roma. Zurzeit verfügen sie über den Status der Duldung, zuletzt verlängert am 17. Januar 2006 bis zum 14. Juli 2006.
Im Juli 1999 reiste der Antragsteller zu 1. mit seiner Frau (Antragstellerin zu 2.) und den beiden Kindern E. und E1 (Antragsteller zu 3. und 4.) ohne Pass und ohne Visum in die Bundesrepublik ein. Die Kinder M. und S. (Antragsteller zu 5. und 6.) wurden in H. geboren.
Seit September 1999 bezieht die Familie Grundleistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG, die Antragsteller zu 5. und 6. naturgemäß erst seit ihrer Geburt im Jahre 2000 bzw. 2005.
Asylanträge wurden mit Ausnahme für die Antragstellerin zu 5. nicht gestellt. Der Antrag der Antragstellerin zu 5. wurde am 15. Mai 2002 als unbeachtlich abgelehnt. Die Ablehnung ist seit dem 10. Januar 2003 unanfechtbar.
Im September 2004 legten die Antragsteller zu 1. bis 5. Widerspruch gegen den Leistungsbewilligungsbescheid für August 2004 ein und beantragten die Gewährung sogenannter Analogleistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. mit dem SGB XII für Leistungsberechtigte nach längerem Aufenthalt, was die Antragsgegnerin schließlich mit (bestandskräftigem) Widerspruchsbescheid vom 24. November 2004 für die Antragsteller zu 1. bis 4. zurückwies. Nur für die Antragstellerin zu 5. gewährte sie ab September 2004 mit Bescheid vom 20. September 2004 Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII. Mit Bewilligungsbescheid für Februar 2005 wurden der Antragstellerin zu 5. dann wieder, wie den übrigen Familienmitgliedern, nur noch Grundleistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG zuerkannt.
Im September 2005 legten die Antragsteller erneut Widerspruch - offenbar gegen den Leistungsbewilligungsbescheid für August 2005 - wegen der Nichtanwendung des § 2 AsylbLG ein, der von der Antragsgegnerin bislang nicht beschieden wurde.
Am 6. Februar 2006 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Hamburg beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung der sogenannten Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zu verpflichten. Mit Beschluss vom 2. März 2006 hat das Sozialgericht Hamburg die Antragsgegnerin zur Gewährung der begehrten Leistung für den Zeitraum vom 1. Februar 2006 bis zum 30. April 2006 unter Anrechnung bereits erbrachter Zahlungen verpflichtet. Gegen diesen Beschluss hat die Antragsgegnerin am 3. März 2006 Beschwerde eingelegt.
Sie ist der Auffassung, dass den Antragstellern Leistungen nach § 2 AsylbLG nicht zustünden, da sie die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflussten. Die Antragsteller zu 1. bis 4. seien 1999 ohne Pass oder Visum eingereist. Zudem sei trotz des zur Zeit ausgesprochenen Abschiebestopps für Roma aus dem Kosovo eine freiwillige Ausreise jederzeit möglich. Da...