Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung von Wohnsitzausländern bei der Berechnung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung nur bei ausdrücklicher Vereinbarung der Gesamtvertragsparteien

 

Orientierungssatz

1. Bei der Frage, ob und inwieweit die Kassenärztliche Vereinigung (KV) bei der Berechnung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) Wohnsitzausländer zu berücksichtigen hat, ist von den Vorschriften der §§ 83 Abs. 1 S. 1 und 85 Abs. 1 und 2 S. 1 SGB 5 auszugehen.

2. Ist eine Vereinbarung der Gesamtvertragsparteien darüber, ob Versicherte mit Wohnsitz im Ausland zu berücksichtigen sind, nicht erfolgt, so ist mangels einer eindeutigen Verständigung die Einbeziehung von Versicherten mit Wohnsitz im Ausland unzulässig.

3. Als Folge der Einführung des Wohnortprinzips muss im Rahmen der Vergütungsverträge für jede Krankenkasse, deren Versicherte im Bezirk der jeweiligen KV wohnen, eine Gesamtvergütung vereinbart werden. Die genaue Regelung einer Verständigung im jeweiligen Bezirk ist insoweit erforderlich. Eine konkludente Verständigung kann nicht ohne weiteres unterstellt werden.

4. Die Vorschrift des § 85 Abs. 2 S. 3 SGB 5 schließt generell aus, die Vergütung ärztlicher Leistungen nach dem Geschlecht der Versicherten, nach ihrem Status als Pflichtversicherte oder als versicherte Familienangehörige oder nach ihren der Beitragsbemessung zugrundeliegenden Einnahmen zu variieren. Anders verhält es sich jedoch bei der Frage, wie sich die Versichertenzahl vor dem Hintergrund des Wohnortprinzips bei der Berechnung der Gesamtvergütung bemisst.

 

Normenkette

SGB V § 75 Abs. 7, § 83 Abs. 1 S. 1, § 85 Abs. 1, 2 S. 1, Abs. 3, § 264; BMV-Ä Anlage 14 § 2 Abs. 3

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 17.02.2016; Aktenzeichen B 6 KA 38/15 B)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 2013 aufgehoben, und die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, inwieweit Wohnsitzausländer bei der Berechnung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) für die Klägerin, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) H., zu berücksichtigen sind.

Die Klägerin verlangte für die Quartale I/2009 bis einschließlich IV 2012 von der Beklagten - einer Krankenkasse, die zunächst dem BKK-Landesverband N. angehörte und seit dem 1. Juli 2010 dem BKK-Landesverband N1 angehört - MGV unter Ansetzung auch der Anzahl derjenigen Versicherten der Beklagten, die ihren Wohnsitz seinerzeit im Ausland hatten (Wohnsitzausländer). Die Beklagte verweigerte unter Hinweis auf eine ihrer Auffassung nach fehlende Rechtsgrundlage die Zahlung von insgesamt 71.062,03 Euro. In § 2 Abs. 3 der Anlage 14 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) heißt es dazu:

"Sofern ein Mitglied einer Krankenkasse, die Verträge nach § 83 Abs. 1 S. 1 SGB V geschlossen hat, seinen Wohnsitz im Ausland hat, verständigen sich die Partner der Gesamtverträge im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung, in deren Bezirk die Krankenkasse ihren Sitz hat, über Art und Höhe der Gesamtvergütung."

Die Klägerin hat am 28. April 2011 bei dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben und Zahlung von zunächst 36.027,45 Euro nebst Zinsen in Höhe von 8 % über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Fälligkeit beantragt. Sie hat die Klage anschließend laufend um die ihrer Meinung nach ausstehenden Beträge in den Folgequartalen erweitert und vor dem Sozialgericht zuletzt einen Betrag in Höhe von 71.062,03 Euro nebst Zinsen gemäß gesonderter Zinsstaffel geltend gemacht. Sie hat vorgetragen, mit dem für die Beklagte zuständigen Landesverband sei eine Verständigung in dem genannten Sinne erzielt worden, denn ihren Honorarvereinbarungen 2009 und 2010 seien bestimmte Datensatzarten zugrunde gelegt worden, die die Versichertenzahl einschließlich der sogenannten Wohnsitzausländer berechneten (Datensätze ARZTRG87c4BB und ARZTRG87c4 bzw. ARZT87aBRUTTOLB und ARZTG87aMGVBB; s. Anlage 3 Ziff. 6 zur Honorarvereinbarung 2009 und Anl. 2a Ziff. 6 zur Honorarvereinbarung 2010). Diese Satzarten seien eine unveränderte Umsetzung der Beschlüsse des Bewertungsausschusses, wonach die Leistungssegmente A1 bis A5 sowie L, N und RA in die Berechnung des mit der Zahl und der Morbiditätsstruktur der Versicherten verbundenen Behandlungsbedarfs einflössen. Zwar sei während der Honorarverhandlungen keine ausdrückliche bzw. schriftlich festgehaltene Verständigung mit dem BKK Landesverband N., der die Beklagte vertreten habe, erzielt worden. Die Verständigung über die entsprechenden Satzarten, bei denen die Wohnsitzausländer Berücksichtigung fänden, sei aber gelebte Praxis, so dass die Beklagte nicht berechtigt sei, die Honorarforderungen und die Abschlagszahlungen zu kürzen. Der Zinsanspruch folge aus § 13 Abs. 4 des Gesamtvertrags sowie § 69 Satz 1 und 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit §§ 291, 281 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Beklagte befinde sich in Zahlungsverzug.

Die Beklagte...

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