Entscheidungsstichwort (Thema)
Parkerleichterung für einen Schwerbehinderten mit Amelie bzw. Phokomelie
Orientierungssatz
1. Die Benutzung der gekennzeichneten Behindertenparkplätze ist der Personengruppe der außergewöhnlich Gehbehinderten sowie der Blinden und seit 2009 zusätzlich Menschen mit Amelie oder Phokomelie oder vergleichbaren Funktionseinschränkungen vorbehalten. Kann der Schwerbehinderte trotz Fehlbildung Arme und Beine in einem gewissen Umfang sinnvoll einsetzen, so liegt kein völliger Funktionsverlust und damit keine der Amelie oder Phokomelie vergleichbare Funktionseinschränkung vor.
2. Die Parkerleichterung soll nicht ausnahmslos allen contergangeschädigten Menschen unabhängig von deren Funktionsbeeinträchtigung zugute kommen. Ursachenbezogen wird nicht auf eine Conterganschädigung, sondern generell auf eine bestimmte körperliche Einschränkung abgestellt.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nutzung von Parkplätzen mit Rollstuhlfahrersymbol (Zeichen 314 und 315) nach § 45 der Straßenverkehrsordnung (StVO) streitig.
Bei der am 21. November 1961 geborenen Klägerin bestehen seit Geburt Fehlbildungen der Arme und Finger durch Contergan in Form von hypoplastischen Armen, verkürzten Unterarmen, Fehlbildung der Hände (Klumphände) und Finger sowie Funktionseinschränkungen der Gelenke. Wegen dieser Gesundheitsstörungen waren bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie Hilflosigkeit (Merkzeichen H) und eine erhebliche Gehbehinderung (Merkzeichen G) festgestellt worden (Bescheide vom 2. November 1976 und 20. Februar 1984). Am 19. Mai 2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Ausstellung eines Parkausweises für Behindertenparkplätze. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 2009 mit der Begründung ab, dass nach § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) nur die Personengruppe der schwerbehinderten Menschen berechtigt sei, bei denen eine beidseitige Amelie (vollständiges Fehlen beider Arme) oder Phokomelie (Hände sitzen unmittelbar an der Schulter an) oder eine vergleichbare Funktionseinschränkung vorliege. Zu dieser Personengruppe gehöre die Klägerin nicht. Mit ihrem gegen diese Entscheidung eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie gehöre zu der Personengruppe, bei der eine vergleichbare Funktionseinschränkung vorliege. Die Beklagte zog das Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 25. Juni 2009 zu den "erweiterten Parkmöglichkeiten für Schwerbehinderte Menschen" bei, in welchem es unter anderem heißt, dass unter vergleichbaren Funktionseinschränkungen ein völliger Funktionsverlust der Arme inklusive der Schulter- und Ellenbogengelenke zu verstehen sei. Unter Hinweis auf diese Ausführungen wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 2. September 2009 zurück.
Mit ihrer dagegen erhobenen Klage hat die Klägerin unter Hinweis auf das Attest der Internisten Dres. M./ Z. vom 15. Januar 1998 und das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung H. vom 27. Januar 1998 geltend gemacht, bei ihr liege eine Phokomelie vor. Zwar seien die Oberarme vorhanden, jedoch leide sie unter stark eingeschränkten Schulterfunktionen, so dass ihr für die Alltagsverrichtungen notwendige Drehbewegungen im Schulterbereich nicht möglich seien. Auch seien bei ihr zwar Elle und Speiche auf beiden Seiten vorhanden, jedoch ebenso wie Hand- und Ellenbogengelenke völlig funktionslos. Umwendebewegungen der Arme seien daher nicht möglich. Unabhängig davon sei es Wille des Gesetzgebers gewesen, der Forderung des Bundesverbandes Contergangeschädigter nachzukommen und allen Contergangeschädigten die entsprechende Parkerleichterung zu ermöglichen. Ausweislich der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StVG vom 13. Oktober 2008 (BT-Drucksache 16/10534) seien die Bedürfnisse der Contergangeschädigten nachvollziehbar und auch auf Grund der relativ geringen Anzahl der Betroffenen aus verkehrsrechtlicher Sicht vertretbar. Nach dem Willen des Gesetzgebers seien daher Contergangeschädigte, bei denen nicht ein vollständiges Krankheitsbild der ausdrücklich erwähnten Amelie und Phokomelie vorliege, grundsätzlich unter den Begriff der "vergleichbaren Funktionseinschränkungen" zu subsumieren. Deshalb würden auch nach der Verwaltungspraxis der Städte Wuppertal und Münster sowie der Bayerischen Staatsregierung alle Menschen mit Conterganschäden ohne Differenzierung in den Berechtigtenkreis aufgenommen werden.
Der Orthopäde Dr. N. hat in seinem auf Veranlassung des Sozialgerichts nach Untersuchung der Klägerin erstellten Gutachten vom 18. Juni 2010 das Vorliegen einer Amelie oder Phokomelie wie auch das Vorliegen eines völligen Funktionsverlustes der Arme inklusive Schulter- und Ellenbogengelenke verneint. Trotz...