Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Grundsicherungsträgers zur Bewilligung eines Härtefallmehrbedarfs bei Vorliegen einer atypischen Bedarfslage - Kontaktpflege mit dem behinderten Kind
Orientierungssatz
1. Mit der Einführung des Härtefallmehrbedarfs in § 21 Abs. 6 SGB 2 hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass auch in atypischen Bedarfslagen Leistungen des SGB 2 erbracht werden, die entweder der Art oder der Höhe nach bei der Bemessung des Regelbedarfs nicht berücksichtigt sind (BVerfG Urteil vom 9. 2. 2010, 1 BvL 1/09).
2. Ein solcher Bedarf kann u. a. vorliegen, wenn die Aufwendungen für die Kontaktpflege zwischen Erwachsenen für die personale Existenz von herausgehobener Bedeutung sind (BSG Urteil vom 28. 11. 2018, B 14 AS 48/17 R).
3. Der besondere Bedarf ist unabweisbar, wenn er nicht durch Zuwendungen Dritter oder die Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten gedeckt werden kann oder der Bedarf der Höhe nach nicht erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
4. Eine allgemeine Bagatellgrenze besteht nicht.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Dezember 2019 wird dahingehend klargestellt, dass der Beklagte weitere Leistungen für den Monat März 2016 in Höhe von 21,75 Euro, für den Monat April 2016 in Höhe von 28,50 Euro und für den Monat Mai 2016 in Höhe von 40,50 Euro zu zahlen hat.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch in der Berufungsinstanz zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum von Dezember 2015 bis Mai 2016.
Die 1965 geborene, erwerbsfähige Klägerin lebt seit dem Jahr 2008 in H.. Sie steht seit dem Jahr 2015 im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Im November 2015 stellte sie einen Weiterbewilligungsantrag bei dem Beklagten für den Zeitraum ab Dezember 2015. Am 2. Dezember 2015 stellte sie einen Antrag auf Übernahme von Fahrtkosten für Besuche bei ihrer in M. in einer Einrichtung für betreutes Wohnen lebenden Tochter. Zur Begründung trug sie vor, dass sie die Fahrtkosten aus eigenen Mitteln nicht alleine tragen könne. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 7. Dezember 2015 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 29. Januar 2016 und 15. Juni 2016 Leistungen nach dem SGB II für die Monate Dezember 2015 bis Mai 2016. Er berücksichtigte dabei die tatsächlichen, kopfteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung, die Regelbedarfsstufe 1 im Dezember 2015 und Januar 2016 und die Regelbedarfsstufe 2 von Februar 2016 bis Mai 2016 sowie die Pauschale für die dezentrale Warmwasseraufbereitung.
Bei der im xxxxx 1994 geborenen Tochter der Klägerin besteht laut ärztlichem Attest vom 29. August 2017 der Dr. E.B., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, eine angeborene, schwerwiegende, unheilbare Cholesterinbiosynthesestörung, das sog. Smith-Lemli-Opitz-Syndrom, sowie eine mentale und psychomotorische Retardierung/Behinderung, eine Fettstoffwechselstörung, Talus verticalus, Minderwuchs und Zustand nach Gedeihstörung. Es ist bei ihr ein Grad der Behinderung von 80 anerkannt und die Merkzeichen B und G vergeben. Die Tochter der Klägerin ist Analphabetin. Sie lebt in einer Einrichtung für betreutes Wohnen der L. Wohnstätten in M..
Mit Bescheid vom 2. Februar 2016 wurde der Antrag der Klägerin auf Übernahme von Fahrtkosten für Besuche bei der Tochter in M. abgelehnt. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die beantragte Leistung keine Leistung nach dem SGB II sei. Die Klägerin legte gegen den Ablehnungsbescheid mit Schreiben vom 9. Februar 2016 Widerspruch ein und führte aus, dass die Fahrkosten zu ihrer Tochter einen unabweisbaren, laufenden Mehrbedarf darstellten. Sie seien auch nicht vom Regelbedarf erfasst.
Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2016 zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Fahrten nach M. gemäß § 21 Abs. 6 SGB II nicht bestünde. Es fehle an einer Unabweisbarkeit des Bedarfs. Es lägen zum einen keine Nachweise vor, dass die Tochter die Klägerin nicht besuchen könne. Zum anderen könne die Klägerin durch längerfristige Planungen und Umschichtungen aus dem Arbeitslosengeld II die Kosten auch selbst tragen.
Daraufhin hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht erhoben. Zur Begründung ihrer Klage hat sie vorgetragen, dass sie ihre Tochter im Rahmen ihres Umgangsrechts einmal im Monat für ein Wochenende in M. besuche. Sie verbringe dann den Freitagnachmittag, Sonnabend und Sonntag mit ihrer Tochter und reise am Sonntagabend oder, wenn die Bahntickets zu teuer seien, am Montag zurück nach H.. Sie übernachte in M. bei Verwandten. Sie besitze eine Bahncard 25. Ihre Tochter selbst könne sie aufgrund ihrer Behinderung nicht in H. besuchen. Sie leide an dem Smith-Lemli-Opitz-Syn...