Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der zulässigen Annahme einer fiktiven Klagerücknahme
Orientierungssatz
1. Bei der fiktiven Klagerücknahme des § 102 Abs. 2 SGG handelt es sich um eine Regelung für Fälle, in denen das Rechtschutzinteresse an einem Verfahren entfallen ist. Die Anwendung der Klagerücknahmefiktion setzt voraus, dass konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist.
2. Eine Aufforderung des Sozialgerichts an einen Verfahrensbeteiligten, Mitwirkungshandlungen im sozialgerichtlichen Verfahren vorzunehmen, ist rechtlich zulässig.
3. Für eine Betreibensaufforderung genügt nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit. Es ist nur das Unterlassen solcher prozessualer Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die z. B. für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält.
4. Nur dann, wenn der Kläger nachweislich das Interesse an dem Rechtstreit verloren hat, ist die Annahme einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG gerechtfertigt.
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Dezember 2020 aufgehoben und festgestellt, dass der Rechtsstreit nicht durch Klagerücknahme erledigt ist.
2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Beendigung des Verfahrens durch eine Klagerücknahmefiktion.
Am 3. September 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten Arbeitslosengeld.
Mit Bescheid vom 26. September 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei in den letzten zwei Jahren vor dem 3. September 2019 weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen und habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Mit seinem am 2. Oktober 2019 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, es liege Nahtlosigkeit vor. In den Jahren 2017 und 2018 habe er eine berufliche und medizinische Reha durchgeführt.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit, es seien dort folgende Zeiten des Übergangsgeldbezugs dokumentiert: 1. Januar 2018 bis 18. Februar 2018, 24. Februar 2018 bis 25. Februar 2018, 27. Februar 2018 bis 5. März 2018 sowie 27. September 2018 bis 25. Oktober 2018. Nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung gehörten die Übergangsgeldzeiten im Februar und März 2018 nicht zu einer medizinischen Reha.
Der Kläger wandte sich telefonisch an die Beklagte und bat um Rückruf für ein persönliches Gespräch.
Mit Schreiben vom 18. November 2019 teilte die Beklagte mit, es seien noch Feststellungen zur Sach- und Rechtslage zu treffen. Der Kläger möge darstellen, welche Entgelte bzw. Entgeltersatzleistungen er im Jahr 2016 nach dem Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld am 21. April 2016 erhalten habe.
Der Kläger bat erneut um eine telefonische Gesprächsmöglichkeit. Die Beklagte nahm daraufhin einen Rückruf vor und erklärte dem Kläger, welche Unterlagen für die weitere Prüfung des Widerspruchs benötigt würden.
Der Kläger übersandte daraufhin Unterlagen der Krankenkasse über den Bezug von Krankengeld am 24. April 2016 sowie Verletztengeld in der Zeit vom 25. April 2016 bis 17. August 2016 und Übergangsgeld vom 8. August 2016 bis 31. Dezember 2016.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Er habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Am 11. Dezember 2019 meldete sich der Kläger telefonisch bei der Beklagten. Er bat dringend um einen Rückruf bezüglich der Entscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2019.
Am 9. Januar 2020 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Nach telefonischer Auskunft der Beklagten sei sein Widerspruch abgewiesen worden. Den Widerspruchsbescheid habe er bis heute nicht per Post erhalten. Er bitte um Mitteilung, ab welchem Tag die Frist für die Geltendmachung weiterer rechtlicher Schritte laufe. Fristwahrend erhebe er vorsorglich Klage. Nach Einsicht der fehlenden Dokumente und Unterlagen werde er seine Begründung nachreichen. Wegen gesundheitlicher Behandlungen sei er bis Ende Februar 2020 nicht zu Hause.
Das Sozialgericht hat den Kläger darauf hingewiesen, dass eine Klage erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides zulässig sei. Eine Untätigkeitsklage sei drei Monate nach Erhebung des Widerspruches zulässig.
Die Beklagte hat dem Kläger am 29. Januar 2020 eine Zweitschrift des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2019 zugeschickt. Sie hat vorgetragen, dass die Klage unzulässig sei, da der Kläger angegeben habe, den Widerspruchsbescheid noch nicht erhalten zu haben. Eine Klage sei nur zulässig, wenn sie binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides erhoben werde.
Das Sozialgericht hat den Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 2020 zur Stellungnahme hierzu aufgefordert und daran mit gerichtliche...