Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vermögensberücksichtigung. Vorerbschaft mit angeordneter lebenslanger Testamentsvollstreckung. Verfügungsbeschränkung bzw -hindernis. Behindertentestament. keine Sittenwidrigkeit. keine Pflicht zur Ausschlagung der Vorerbschaft oder zur Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs. keine Verweisung auf Darlehen
Orientierungssatz
1. Ein Ausschluss der Verwertbarkeit iS des § 12 Abs 1 SGB 2 ergibt sich nicht aus der Einsetzung zum Vorerben, denn auch ein Vorerbe kann nach § 2112 BGB über die zur Erbschaft gehörenden Gegenstände verfügen, soweit sich nicht aus den Vorschriften der §§ 2113 bis 2115 BGB ein anderes ergibt.
2. Ausgeschlossen wird die Verwertbarkeit der Vorerbschaft jedoch durch die Anordnung der Testamentsvollstreckung. Testamentsvollstreckung kann - wie im Fall des sog Behindertentestaments - auch im Fall der Vorerbenschaft angeordnet werden und führt unabhängig von den aus der Stellung als Vorerbe resultierenden Beschränkungen zu einem rechtlichen Verfügungshindernis, das dem Grundsatz nach zugleich die Verwertbarkeit iS des § 12 Abs 1 SGB 2 ausschließt.
3. Eine Ausnahme von diesem Verfügungshindernis kommt nur in Betracht, wenn der Berechtigte in absehbarer Zeit eine Freigabe von Nachlassgegenständen oder Nutzungen gem §§ 2216, 2217 BGB erreichen könnte oder wenn - wiederum zeitnah - ein Fall eintritt, in dem der Testamentsvollstrecker nach dem Testament verpflichtet ist, Geldmittel an den Berechtigten auszukehren und es für Bedarfe einzusetzen, zu deren Befriedigung der Kläger Fürsorgeleistungen erhält.
4. Das sog Behindertentestament - die Kombination aus Einsetzung zum Vorerben und lebenslanger Testamentsvollstreckung - ist nicht sittenwidrig gem § 138 BGB (vgl BGH vom 21.3.1990 - IV ZR 169/89 = BGHZ 111, 36).
5. Der Vorerbe braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, dass er es unterlassen hat gem § 2306 Abs 1 S 2 BGB das Erbe als Vorerbe auszuschlagen und stattdessen einen Pflichtteilsanspruch geltend zu machen. Selbst der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsempfängers ist nicht sittenwidrig (vgl BGH vom 19.1.2011 - IV ZR 7/10 = BGHZ 188, 96), kann dem Vorerbe nicht vorgeworfen werden, er habe einen möglichen Anspruch auf einen nicht im Wege der Vorerbenstellung eingeschränkten Pflichtteil nicht realisiert.
6. Folge der fehlenden Verwertbarkeit der Vorerbschaft iS des § 12 Abs 1 SGB 2 ist auch nicht eine Beschränkung des Leistungsanspruchs auf ein Darlehen gem § 9 Abs 4 SGB 2. Ein solches Darlehen kommt erst dann in Betracht, wenn überhaupt berücksichtigungsfähiges Vermögen iS des § 12 Abs 1 SGB 2 vorhanden ist.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. April 2010 sowie der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 22. Juni 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Abänderung des Ablehnungsbescheides vom 22. Juni 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 und der Bescheide vom 27. Juni 2008 und 15. Oktober 2008 verurteilt, dem Kläger in der Zeit vom 1. Mai 2007 bis zum 31. Oktober 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes als Zuschuss zu zahlen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der Zeit vom 1. Mai 2007 bis zum 31. Oktober 2008 als Zuschuss, hilfsweise als Darlehen für den Zeitraum vom 1. Mai 2007 bis 25. Mai 2008.
Der am XXXXX geborene Kläger, der bis Ende 2004 Sozialhilfe und anschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bezog, ist der Sohn des am XXXXX 1933 geborenen und am XXXXX 2007 verstorbenen Herrn I. (i.F.: Erblasser). Er leidet ausweislich verschiedener Unterlagen des sozialpsychiatrischen Dienstes an einer depressiven Persönlichkeitsstörung (Depression mit rezidivierender schwerer depressiver Adynamie) sowie möglicherweise auch an Epilepsie und steht seit längerem (spätestens seit dem Jahr 2001) unter Betreuung. Mit Bescheid vom 25. Oktober 2007 wurde bei ihm ab dem 12. Juli 2007 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt wegen eines Anfallsleidens, einer Hirnleistungsstörung und einer psychischen Störung. Derzeit bezieht er nach Angaben seines Betreuers Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), nachdem durch ein auf Betreiben des Beklagten eingeholtes Sachverständigengutachten fehlende Erwerbsfähigkeit festgestellt wurde.
Der Erblasser errichtete am 17. Juni 2004 ein notarielles Testament (Urkundenrolle für 2004 der Notarin Frau Dr. K. in D.), in dem er den Kläger und seine Schwester A.R. (geb. XXXXX1960) je zur Hälfte als von den gesetzlichen Bestimmungen nicht befreite Vorerben und die beiden Kinder der Schwester (geb. 1995 und 1997) als Nacherben einsetzte. Weiterhin ordnete der Erblasser hinsichtlich des Erbteils des Klägers die Testamentsvollst...