Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG. Anwendbarkeit im Berufungsverfahren
Orientierungssatz
1. Die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG gilt nicht ausschließlich für das Klageverfahren, sondern ist im Berufungsverfahren entsprechend anzuwenden. Ein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers ist nicht festzustellen. Vielmehr hat der Gesetzgeber offenbar übersehen, dass auch im Berufungsverfahren fehlendes Betreiben vorliegen kann und hierfür eine gesetzliche Handhabe zu schaffen ist.
2. In der bloßen Bitte um Verlängerung der mit einer Betreibensaufforderung nach § 102 Abs 2 SGG gesetzten Frist kann eine das Verfahren fördernde Äußerung nicht erblickt werden. Da es sich um eine gesetzliche Frist handelt, kommt auch eine Verlängerung nicht in Betracht.
Nachgehend
Tenor
Das Verfahren L 1 R 69/07 ist durch Fiktion der Berufungsrücknahme beendet. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Fortsetzung des Berufungsverfahrens L 1 R 69/07, in dem die Beteiligten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streiten.
Am 9. Januar 2004 beantragte die Klägerin, die keine Berufsausbildung abgeschlossen hat und zuletzt als Bürohilfe bei einer Zeitarbeitsfirma tätig gewesen ist, unter Hinweis auf eine Reihe gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die ihre Leistungsfähigkeit einschränkten, die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag nach Durchführung medizinischer Ermittlungen auf dem neurologisch-psychiatrischen und dem internistischen Fachgebiet mit Bescheid vom 31. März 2004 ab. Sie vertrat die Auffassung, die Versicherte könne noch leichte Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche verrichten. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.
Das Sozialgericht hat die auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beschränkte Klage durch Urteil vom 9. März 2007 abgewiesen. Es hat sich insoweit auf aktuelle Befundberichte der behandelnden Ärzte, eine Begutachtung auf dem internistischen Fachgebiet durch Dr. W. vom 25. August 2005 und eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung vom 11. März 2006 durch Dr. B. gestützt. Beide medizinischen Sachverständigen waren nach Untersuchung der Klägerin übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass diese bei erhaltener Wegefähigkeit unter Beachtung bestimmter qualitativer Einschränkungen jedenfalls noch leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten könne. Demgegenüber hatte der nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehörte Arzt für Nervenheilkunde/Psychotherapie Dr. H. dafürgehalten, dass zumutbare Tätigkeiten nur halb- bis untervollschichtig ausgeübt werden könnten.
Das ihrem Prozessbevollmächtigten am 21. März 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. April 2007 mit der Berufung angefochten und auf eine Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes auf dem nervenärztlichen Fachgebiet hingewiesen. Daraufhin hat das Berufungsgericht eine ambulante Untersuchung und schriftliche Begutachtung durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. veranlasst. Dieser gelangt in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 23. Januar 2008 zu der Überzeugung, dass bei der Klägerin eine depressive Verstimmung im Sinne einer leichten depressiven Episode mit somatischen Symptomen und Chronifizierungstendenz sowie eine Migräne mittelgradiger Verlaufsform bestehe. Zusätzlich leide die Versicherte an einer Autoimmunerkrankung der Haut mit zusätzlichen Organbeteiligungen, Diabetes mellitus, einer Bronchialerkrankung und Herzrhythmusstörungen. Sie könne aber leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen ausüben. Die Klägerin hat ein Attest ihres Hausarztes eingereicht und die Auffassung vertreten, dass ein weiterer Aufklärungsbedarf insbesondere auf dem internistischen Fachgebiet bestehe. Dies betreffe vor allem den Lupus. Auch bedürfe es einer kardiologischen Abklärung. Nachdem die eingeholten Befundberichte ergeben hatten, dass eine interventionsbedürftige Herzerkrankung durch die behandelnden Ärzte ausgeschlossen wird, hat das Berufungsgericht unter Hinweis auf die bereits durch Dr. W. zu dem bei der Klägerin bestehenden Lupus erythematodes gemachten Ausführungen anheimgegeben, einen Arzt des Vertrauens nach § 109 SGG zu benennen, hierfür eine erste Frist bis zum 23. Mai 2008 und auf Bitten der Klägerin eine weitere Frist bis zum 8. Juni 2008 gesetzt. Die Versicherte hat sich innerhalb dieser Frist auf den Internisten Dr. S. berufen und das Gericht diesen durch Beweisanordnung vom 30. Juli 2008 zum medizinischen Sachverständigen nach § 109 SGG bestimmt. Den Untersuchungstermin bei Dr. S. am 26. August 2008 hat die Klägerin nicht wahrgenommen und sich hierfür auf fehlende Reisefähigkeit berufen. Sie hat alsdann Dr. W1 als Arzt ihres Vertrauens ...