Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit. Einkommensberücksichtigung. Erlass eines endgültigen Bescheides trotz schwankenden Einkommens
Orientierungssatz
1. Die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig, wenn Leistungen endgültig bewilligt werden, obwohl aufgrund schwankenden Einkommens nur eine vorläufige Entscheidung hätte erfolgen dürfen (vgl BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R = BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12).
2. Maßgebender Zeitpunkt für die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit im Sinne § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 ist die Bekanntgabe des begünstigenden Verwaltungsakts.
3. Die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 muss sich auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde beziehen. Allerdings können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grob fahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkte für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Unerheblich ist dabei, ob der Begünstigte die genaue rechtliche Begründung der Rechtswidrigkeit kennt bzw grob fahrlässig nicht kennt. Es kommt daher nicht darauf an, ob die Begünstigte wusste oder erkennen konnte, dass der Grundsicherungsträger hier keine endgültige, sondern eine vorläufige Entscheidung hätte erlassen dürfen (entgegen SG Chemnitz vom 16.8.2011 - S 37 AS 1853/10).
4. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 ist eingehalten, wenn der Aufhebungs- bzw Rücknahmebescheid innerhalb der Frist ergangen ist. Es ist unschädlich, wenn der Widerspruchsbescheid erst nach Ablauf der Jahresfrist erlassen worden ist, da Ausgangs- und Widerspruchsbescheid sich als Einheit darstellen.
Tenor
1. Die Berufung wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat ein Zehntel der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die teilweise Aufhebung und Rückforderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die ihnen der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Februar 2014 bis zum 31. Mai 2014 gewährt hatte.
Die 1978 bzw. 2002 geborenen Kläger sind Mutter und Sohn. Die im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähige Klägerin war seit dem 7. Februar 2011 als Abrufarbeitnehmerin bei der Firma M. mit einer Arbeitszeit von mindestens drei Stunden pro Woche beschäftigt. Aus dieser Tätigkeit erhielt sie ein monatlich schwankendes Einkommen, wobei das Gehalt jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurde. Für die Monate August bis Oktober 2013 wurde den Klägern Wohngeld in Höhe von monatlich 123,- Euro gezahlt. Vom 16. Oktober 2013 bis zum 15. Dezember 2013 erhielt die Klägerin Krankengeld in Höhe von täglich 26,70 Euro netto.
Nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten beantragte die Klägerin für sich und den Kläger zum 1. September 2013 aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beim Beklagten. Dieser bewilligte mit Bescheid vom 20. September 2013 für die Monate September bis November 2013 Leistungen unter Anrechnung von Erwerbseinkommen in Höhe von 1500,- brutto bzw. 1150,- netto, Kindergeld in Höhe von 184,- Euro sowie Wohngeld in Höhe von 123,- Euro. Nachdem die Klägerin am 30. September 2013 ihre Verdienstabrechnung für August 2013 eingereicht hatte, erließ der Beklagte am 4. Oktober 2013 einen Änderungsbescheid und bewilligte für September 2013 höhere Leistungen (292,18 Euro). In der Begründung heißt es „Korrektur der Einkommensanrechnung im September gem. der Verdienstabrechnung 08.13. ***Einkommensanrechnung im Folgemonat“. Anfang Oktober reichte die Klägerin beim Beklagten einen Nachweis über die Einstellung des Wohngelds ein. Daraufhin erließ der Beklagte am 5. November 2013 einen weiteren Änderungsbescheid, mit dem für den Monat November 2013 höhere Leistungen - nämlich ohne Anrechnung eines Einkommens aus Wohngeld - bewilligt wurden. Ende November reichte die Klägerin beim Beklagten ein Schreiben ihrer Krankenkasse vom 18. November 2013 ein, in dem diese mitteilt, dass sie ab dem 16. Oktober 2013 Krankengeld zahle. Mit Schreiben vom 17. November 2013 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigen Aufhebung und Erstattungsforderung an und führte aus, die Klägerin habe mit dem Krankengeld und ihrem Erwerbseinkommen im Oktober und November höhere Einkünfte gehabt als angenommen und sei deshalb in geringerem Umfang hilfebedürftig gewesen. Am 12. Dezember 2013 erließ der ...