Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Freizügigkeitsrecht. Arbeitnehmerstatus. Daueraufenthaltsrecht. Herleitung aus dem allgemeinen Aufenthaltsrecht. Aufenthaltsrecht des Kindes. Sozialhilfe. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Geltung auch für Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12
Orientierungssatz
1. Zur Arbeitnehmereigenschaft iS des § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU 2004.
2. Ein Daueraufenthaltsrecht iS des § 2 Abs 2 Nr 7 FreizügG/EU 2004 wird nicht allein durch einen fast 10 Jahre andauernden Aufenthalt begründet. Voraussetzung für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts ist der rechtmäßige Aufenthalt.
3. Eine materielles, zu Grundsicherungsleistungen berechtigendes Freizügigkeitsrecht kann auch nicht aus dem allgemeinen Aufenthaltsrecht der Unionsbürger nach Art 21 Abs 1 AEUV aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung hergeleitet werden.
4. Voraussetzung für die Entstehung des Aufenthaltsrechts des Kindes gem § 3 Abs 4 FreizügG/EU 2004 ist, dass ein Elternteil in Deutschland beschäftigt ist oder es zumindest war. Ist dies nicht der Fall, entsteht kein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Kindes, so dass auch kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Eltern angenommen werden kann.
5. Der Leistungsausschluss des § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 aF bezieht sich auch auf die Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 (entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43).
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 2. April 2014 - Az. S 3 AS 183/12 - aufgehoben, soweit der Beklagte verpflichtet wurde, den Klägern Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeiträume 1. Mai 2011 bis 31. Januar 2012 und 1. August 2012 bis 30. November 2012 zu bewilligen. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Strittig ist der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeiträume 1. Mai 2011 bis 31. Januar 2012 sowie 1. August 2012 bis 30. November 2012.
Die Kläger sind polnische Staatsbürger. Die vormalige Klägerin zu 1. Frau M. C., welche März 2016 verstorben ist (nachfolgend Verstorbene), und ihr Lebensgefährte, der jetzige Kläger zu 1. (nachfolgend nur Kläger), zogen 2007 bzw. 2008 mit ihren Töchtern, den Klägerinnen zu 2. und zu 3., von Polen nach Deutschland.
Am 31. Mai 2011 stellte die Verstorbene erstmalig einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei dem Beklagten. Den Antrag begründete sie damit, keine Arbeitsstelle zu haben. Die Kinder hätten keine Krankenversicherung. Sie hätten bislang von der Unterstützung ihrer Schwiegereltern gelebt. Dies sei jetzt nicht mehr möglich. Dem Antrag waren Bescheinigungen über das Aufenthaltsrecht gemäß § 5 FreizügG/EU beigefügt, die die Kläger zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes / EU berechtigten. Die Kläger bewohnten eine 70,03 qm große 3-Raumwohnung in der T-Straße in A-Stadt. Die Gesamtmiete betrug 299,- € und setzte sich wie folgt zusammen: Grundmiete i.H.v. 217,40 €, Betriebskosten i.H.v. 31,43 € sowie Heizkosten i.H.v. 50,17 €. Die Kläger beantragten für die Klägerinnen zu 2. und zu 3. bei der Familienkasse die Gewährung von Kindergeld. Eine Entscheidung hierüber stand noch aus.
Ab Juli 2011 übte die Verstorbene eine geringfügige Beschäftigung im M. in A-Stadt aus. Die Vergütung betrug 100,- € monatlich, ab Mai 2012 wurden 250,- € monatlich gezahlt. Die regelmäßige monatliche Arbeitszeit sollte 30 Stunden betragen, wobei die grundsätzliche Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit an den Wochentagen von Montag bis Freitag erfolgen sollte. Gemäß § 6 des Arbeitsvertrages sollte der Urlaubsanspruch 24 Arbeitstage im Kalenderjahr betragen. Sollte die Verstorbene infolge unverschuldeter Krankheit arbeitsunfähig werden, so bestünde gemäß § 7 des Arbeitsvertrages ein Anspruch auf Fortzahlung der Arbeitsvergütung bis zur Dauer von sechs Wochen nach den gesetzlichen Bestimmungen.
Mit Bescheid vom 14. Oktober 2011 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch lägen nicht vor. Der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betreffe Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Gebrauch machten und sich zum Zweck der Arbeitssuche länger als drei Monate in Deutschland aufhielten. Nachweislich hielten sich die Kläger nur zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf und nunmehr auch länger als drei Monate. Auch aus der begonnenen Nebenbeschäftigung ergebe sich noch kein Arbeitnehmerstatus im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wonach d...