Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnung des gesamten Spruchkörpers. andere Rechtsauffassung eines Richters

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage der Zulässigkeit der Ablehnung aller Mitglieder eines Spruchkörpers wegen Besorgnis der Befangenheit.

2. Eine Besorgnis der Befangenheit ist nicht gerechtfertigt, wenn ein Richter eine Rechtsauffassung vertritt, die von den Beteiligten nicht geteilt wird.

 

Gründe

Das Gesuch des Klägers, den 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen wegen Befangenheit abzulehnen, ist zulässig aber nicht begründet.

Nach § 60 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 42 Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen.

Das Ablehnungsgesuch ist zulässig.

Zwar ist die pauschale Ablehnung eines gesamten Spruchkörpers in der Regel rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig. Ein Rechtsmissbrauch liegt aber dann nicht vor, wenn sich das Befangenheitsgesuch nach den Umständen des Sachverhaltes individuell auf jeden einzelnen Richter bezieht. Das ist dann anzunehmen, wenn die Befangenheit aus konkreten, in einer Kollegialentscheidung enthaltenen Anhaltspunkten hergeleitet wird (vgl BVerwG, Urteil vom 5. Dezember 1975 -- VI C 129/74 -- MDR 1976, 783 f; BFH, Urteil vom 8. September 1987 -- VIII S 3/87 --).

Im vorliegenden Fall kann der Kläger aufgrund des Beratungsgeheimnisses nicht wissen, welche Richter oder ob alle Richter die Rechtsprechung des 6. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen zur Unwirksamkeit der Aufnahme von bestimmten Bandscheibenerkrankungen in die Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) mitgetragen haben. Ihm bleibt daher nur die Möglichkeit, den Senat insgesamt abzulehnen. Aus der Sicht des Klägers richtet sich seine Besorgnis der Befangenheit aber gleichwohl gegen jedes einzelne Senatsmitglied.

Das Ablehnungsgesuch ist jedoch unbegründet.

§ 42 Abs 2 ZPO verlangt objektiv hinreichende Gründe dafür, dass der ablehnende Beteiligte von seinem Standpunkt aus unter Berücksichtigung der Ansicht eines vernünftig denkenden Beteiligten Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters haben kann. Die Annahme eines Beteiligten, dass sich der Richter bei seiner richterlichen Tätigkeit von unsachlichen Erwägungen leiten lässt, kann folglich nur dann die Ablehnung begründen, wenn die vorgetragenen Tatsachen bei vernünftiger Betrachtung der Dinge die Annahme einer unsachlichen Richtertätigkeit begründen (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl. 1998, § 60 Rdnr 7 mwN).

Die Richterablehnung hat ausschließlich den Zweck, die Beteiligten davor zu bewahren, dass ein Gerichtsverfahren unter Mitwirkung eines Richters entschieden wird, der Anlass zur Besorgnis der Unsachlichkeit gibt. Die Richterablehnung ist kein Rechtsbehelf gegen unliebsame Rechtsauffassungen von Richtern. Ist ein Beteiligter mit der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht einverstanden, kann er in die Revision oder die Nichtzulassungsbeschwerde gehen.

Der Kläger rügt eine mangelnde Aufklärung des Sachverhalts durch den 6. Senat, weil der Senat in der Frage, "ob auch eine monosegmentale Schädigung für eine berufliche Verursachung in Betracht kommt", bereits festgelegt sei. Er -- der Kläger -- habe "das Gefühl, dass weniger die Erkrankung selbst Ursache für die dargelegte Haltung des Gerichts ist, als dessen grundsätzliche Einstellung zu dem Problem der monosegmentalen Schädigung als Krankheitsursache". Daher erscheine ein Beweisantrag nach § 109 SGG sinnlos. Die Voreingenommenheit des 6. Senats werde auch durch den Umstand bestätigt, dass der Senat sogar die Entscheidung des Sozialgerichts durch Gerichtsbescheid für sachgerecht halte.

Dieser Vortrag rechtfertigt nicht die Besorgnis der Befangenheit. Bevor ein Gericht im Wege der Amtsermittlung den Sachverhalt weiter aufklärt, muss eine rechtsgutachterliche Bearbeitung des Falles erfolgen. Nur auf diese Weise kann das Gericht klären, welche Fragen für die Entscheidung wesentlich sind, in welchen Punkten weiter zu ermitteln ist und welche Ermittlungen überflüssig erscheinen. Die Rechtsauffassung eines Spruchkörpers zu den entscheidungsrelevanten Fragen bestimmt den Umfang der Ermittlungen. Hat sich ein Senat zu einer wesentlichen Frage eine bestimmte Auffassung oder Überzeugung gebildet, so wäre es mit dem Grundsatz der Prozessökonomie nicht vereinbar, Ermittlungen durchzuführen, die für nicht notwendig gehalten werden. Die Bildung einer bestimmten Rechtsauffassung vor der Durchführung weiterer Ermittlungen ist daher jedem gerichtlichen Entscheidungsprozess immanent und rechtfertigt daher grundsätzlich nicht die Besorgnis der Befangenheit.

Im vorliegenden Fall liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass besondere Gründe eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigen. Die Rechtsauffassung des 6. Senats zur Unwirksamkeit der Aufnahme von bestimmten Bandscheibenerkrankungen in die BKV ist ebensowenig ein Ablehnungsgrund wie die behauptete ...

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