Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Zuweisung einer anderen Unterkunft. Anordnungsanspruch. Asylbewerberleistung. Grund- bzw Analogleistung. Unterkunft und Heizung. gesonderte Erbringung als Geld- oder Sachleistung. Auswahlermessen der Behörde. Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung in adäquatem Wohnraum. Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Eine einstweilige Anordnung nach § 86 Abs 2 SGG kann auch über Leistungen ergehen, die eine Ermessensentscheidung der Behörde voraussetzen; unter Umständen kann die Behörde auch zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet werden.
2. § 3 Abs 3 S 3 AsylbLG ermächtigt die Leistungsbehörde, die Bedarfe für Unterkunft und Heizung als Geld- oder Sachleistung zu decken, wobei beide Leistungsformen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Auch wenn grundsätzlich kein Anspruch auf Unterbringung in einer bestimmten Unterkunft besteht, vermittelt § 3 Abs 3 S 3 AsylbLG zumindest einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung in adäquatem Wohnraum. Die Ermessensentscheidung hat die Umstände des Einzelfalls, die besondere Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und die Besonderheiten des AsylbLG zu berücksichtigen.
Orientierungssatz
Eine entsprechende (Auswahl-)Ermessensentscheidung über die Form der Leistungen für Unterkunft und Heizung ist von der Leistungsbehörde auch bei Leistungsberechtigten nach § 2 Abs 1 AsylbLG jedenfalls dann zu treffen, wenn die betroffene Person eine Zuweisung einer anderen Unterkunft begehrt. Für eine entsprechende Anwendung des § 35 SGB 12 gemäß § 2 Abs 1 S 1 AsylbLG ist dann kein Raum.
Normenkette
AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 3 S. 3, Abs. 5 S. 3; AsylG §§ 44, 47, 53; AufenthG § 61 Abs. 2; SGB XII § 35; SGG § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 56, 73a Abs. 1 S. 1, § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4, §§ 96, 193; ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 2, § 920 Abs. 2, § 938; VwVfG § 61 Abs. 2; NVwVfG § 1
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. März 2020 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, über den Antrag der Antragstellerin auf Zuweisung einer anderen Unterkunft unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H., I., bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
Gründe
I.
Im Streit ist die Zuweisung einer neuen Unterkunft als Leistung nach dem AsylbLG.
Die 1971 geborene Antragstellerin lebt mit ihrem 1959 geborenen Ehemann und ihrer 2001 geborenen Tochter im Kreisgebiet der Antragsgegnerin. Sie gibt sich - wie ihre Familienangehörigen - als sudanesische Staatsangehörige, islamischen Glaubens, aus und reiste gemeinsam mit ihrer Tochter im Juni 2017 nach Deutschland ein; ihr Ehemann hält sich seit 2016 in Deutschland auf. Nach erfolglosem Asylverfahren (Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - BAMF - vom 17.8.2017; Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 12.12.2018 - 5 A 1111/17 -, rechtskräftig seit dem 4.2.2019) und Zuweisung zum Antragsgegner (Bescheid der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen - Standort J. - vom 4.9.2017) wurde ihr, ihrem Mann und ihrer Tochter als Inhaber von Duldungen im September 2017 die Auflage erteilt, ihren Wohnsitz in einer Gemeinschaftsunterkunft in K. zu nehmen (Bescheid des Antragsgegners vom 5.9.2017). Der Familie wurden dort zwei Zimmer, ein eigenes Bad und eine eigene Küche in einem Wohncontainer zur Verfügung gestellt. K. liegt im südlichen Kreisgebiet des Antragsgegners nahe an der Autobahn 7 (ca. 3 km), am Ostrand des Naturschutzgebiets L. und zählt etwa 1.000 Einwohner; mit dem Bus sind der Ort M. mit etwa 5.000 Einwohnern (in ca. 10 Min.) und die größeren Städte N. (in ca. 30 Min.) und O. (in ca. 45 Min.) zu erreichen.
Nach der Unterbringung in K. beantragte die im Bezug von Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG stehende Familie mehrmals erfolglos die Zuweisung einer anderen Wohnung (Bescheide des Antragsgegners vom 21.12.2017 sowie vom 5.4. und 22.10.2018). Hintergrund der Anträge waren neben gewünschten Rückzugsmöglichkeiten für die damals fast volljährige Tochter im Wesentlichen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin. Bei ihr bestehen eine chronisch-entzündliche Immunerkrankung (systemischer lupus erythematodes - SLE), und diverse andere - auch psychische - gesundheitliche Beeinträchtigungen mit Schmerzzuständen (Osteoporose, Niereninsuffizienz, Fibromyalgie), teilweise unklarer Genese, die eine fachärztliche Behandlung und stationäre Aufenthalte in Kranke...