Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Anspruch eines Untersuchungshäftlings auf Grundsicherungsleistungen. Taschengeldanspruch
Leitsatz (amtlich)
Mittellose Untersuchungshäftlinge haben einen Anspruch auf ein Taschengeld in Höhe von 10 v.H. des Regelsatzes der laufenden Leistungen nach dem SGB II. Eine Justizvollzugsanstalt ist keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II. Leistungsträger des SGB II und Sozialgerichte können in der Regel keine Prognose über die Dauer einer Untersuchungshaft abgeben. Solange die Länder keine Regelungen über die Befriedigung kleinerer persönlicher Bedürfnisse von armen Untersuchungshäftlingen getroffen haben, können sie nicht als aus dem Leistungsbereich des SGB II ausgeschlossen gelten.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 20.Oktober 2005 wird zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren sind zu erstatten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darum, ob dem Antragsteller als Untersuchungshäftling ein Anspruch auf Taschengeld aus Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zusteht.
Der im Januar 1982 geborene, ledige Antragsteller erhielt bis zum Ende des Jahres 2004 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) von der Stadt C.. Ihm ist seit dem 1. März 2004 ein Betreuer durch Beschluss des Amtsgerichts C. für Rechts- und Vermögensangelegenheiten beigeordnet. Auf seinen Antrag hin erhielt der Antragsteller von der Antragsgegnerin zunächst für den Bewilligungszeitraum Januar bis Juni 2005 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. In der Folgezeit wurden ihm mit Bescheiden vom 18. Juni 2005 und Änderungsbescheid vom 21. Juni 2005 Leistungen für den Bewilligungszeitraum Juli bis Dezember 2005 gewährt. Allerdings wurde hinsichtlich des Umfangs der Leistungen eine Beschränkung auf die Kosten der Unterkunft vorgenommen.
Am 16. Juni 2005 wurde der Antragsteller in Untersuchungshaft genommen. Diese wurde für die Zeit vom 20. Juli bis zum 5. Oktober 2005 zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen. Seit dem 6. Oktober 2005 befindet er sich wieder in Untersuchungshaft. Ein Urteil hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Straftaten ist bislang noch nicht gefällt worden.
Gegen den Änderungsbescheid vom 21. Juni 2005 legte der Antragsteller mit Schreiben vom 29. Juni 2005 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass die Beschränkung der laufenden Leistungen auf die Kosten der Unterkunft ohne Berücksichtigung eines Taschengeldanspruchs während seiner Untersuchungshaft nicht richtig sei. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2005 als unbegründet zurück und führte aus, abgesehen von den Kosten der Unterkunft bestehe für den Antragsteller während der Zeit seines Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt (JVA) keine Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II. Dagegen hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben, über die - soweit ersichtlich - bislang noch nicht entschieden worden ist (Az: S 19 AS 526/05).
Am 5. September 2005 hat sich der Antragsteller an das SG Braunschweig mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Er hat geltend gemacht, dass er in der Haftanstalt zwar beherbergt und verköstigt werde, jedoch nicht - wie andere Untersuchungshäftlinge - über ausreichende Barmittel verfüge, um sich Dinge zu kaufen, die nicht zu den Leistungen der JVA gehörten wie z. B. zusätzliche Hygieneartikel, Süßigkeiten, Zeitschriften, Tabakwaren oder Telefonkarten und Briefmarken. Ihm stünde daher als Taschengeld ein Betrag in Höhe von 26 v.H. des Regelsatzes zu.
Mit Beschluss vom 20. Oktober 2005 hat das SG Braunschweig die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller einen monatlichen Betrag in Höhe von 10 v.H. des Regelsatzes ab dem 6. Oktober 2005 bis zur Beendigung der Untersuchungshaft, längstens jedoch bis zum 15. Dezember 2005 zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Es hat im Wesentlichen dazu ausgeführt, der Antragsteller gehöre nicht zum Kreise derjenigen, die von den Leistungen nach dem SGB II deswegen ausgeschlossen seien, weil sie für einen Zeitraum von länger als sechs Monaten in einer stationären Einrichtung untergebracht seien. Dies sei nämlich wegen der regelmäßigen Begrenzung der Untersuchungshaft auf sechs Monate nach § 121 Strafprozessordnung (StPO) und der für Untersuchungshäftlinge geltenden Unschuldsvermutung im Wege einer Prognoseentscheidung nicht anzunehmen. Auch sei der Antragsteller im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, weil in der Untersuchungshaft sein soziokulturelles Existenzminimum nicht ausreichend gesichert sei. Zwar werde er beherbergt und verköstigt, jedoch verfüge er nicht über Barmittel, um sich etwa Tabakw...