Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Angemessenheitsprüfung. Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts des Grundsicherungsträgers. Anwendung der Wohngeldtabelle ohne Nachweis fehlender Erkenntnismöglichkeiten. Unzulässigkeit der Berufung. fehlendes Rechtsschutzbedürfnis des Grundsicherungsträgers
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft (KdU) erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auf der Grundlage eines konkret-individuellen Maßstabs (sog schlüssiges Konzept). Der Leistungsträger kann nicht frei wählen, ob er seiner Entscheidung ein schlüssiges Konzept oder aber die Tabellenwerte nach § 12 WoGG (zzgl eines Sicherheitszuschlags) zugrunde legt. Letztere finden erst dann als Hilfsmaßstab Anwendung, wenn ein schlüssiges Konzept nicht vorliegt und auch nicht mehr nachträglich erstellt werden kann ("Ausfall der Erkenntnismöglichkeiten").
2. Ein solcher Ausfall der Erkenntnismöglichkeiten kann nicht festgestellt werden, wenn ein Leistungsträger im Berufungsverfahren - auch auf ausdrückliche Nachfrage des Berufungsgerichts - nicht im Einzelnen darlegt, welche Ermittlungen er bislang zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts für den streitbefangenen Zeitraum unternommen hat und weshalb ihm keine weiteren Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen sollen. Dies gilt insbesondere, wenn der streitbefangene Bewilligungszeitraum bei Erhebung der erstinstanzlichen Klage noch nicht abgelaufen war sondern noch andauerte.
3. Die Beteiligten können in einem Berufungsverfahren nicht die rechtliche Überprüfung einzelner Berechnungsfaktoren eines Hilfsmaßstabes (hier: "Zuschlag" für Alleinerziehende bei Zugrundelegung der Tabellenwerte nach § 12 WoGG) überprüfen lassen, wenn die angemessenen KdU nach der Rechtsprechung des BSG nicht nach diesem Hilfsmaßstab, sondern unter Zugrundelegung eines schlüssigen Konzepts zu bestimmen sind.
4. Ein SGB 2-Leistungsträger, der die nachträgliche Erstellung eines schlüssigen Konzepts ablehnt ohne gleichzeitig substantiiert einen Ausfall der Erkenntnismöglichkeiten darzulegen, hat offensichtlich kein Interesse an einer den gesetzlichen Vorgaben des SGB 2 entsprechenden Berufungsentscheidung. Damit fehlt ihm auch das Rechtsschutzinteresse für eine von ihm geführte Berufung gegen ein sozialgerichtliches Urteil, durch das er lediglich wegen des Fehlens eines schlüssigen Konzeptes auf der Grundlage eines Hilfsmaßstabs (Tabellenwerte nach § 12 WoGG) zur Übernahme weiterer Leistungen für KdU verurteilt worden ist.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 22. März 2012 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte erstattet den Klägern die Kosten für das Berufungsverfahren in vollem Umfang.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der für die Kosten der Unterkunft (KdU) zu gewährenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 1. Juni bis 31. Juli 2011.
Die Kläger bezogen in der Zeit vom 1. Juni bis 31. Juli 2011 vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 1.233,-- Euro pro Monat. Hierbei berücksichtigte der Beklagte KdU für die damals bewohnte Wohnung K. i.H.v. 606,-- Euro zzgl. Heizkosten i.H.v. 70,-- Euro pro Monat. Die von den Klägern darüber hinaus zu zahlenden 114,-- Euro (Bruttokaltmiete: 720,-- Euro) ließ der Beklagte bei der Leistungsgewährung unberücksichtigt. Dies begründete er damit, dass dieser Teilbetrag oberhalb des Grenzwerts der angemessenen KdU im Sinne des § 22 SGB II liege (Bescheide vom 29. April 2011 und 17. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2011). Seit dem 1. August 2011 (Tag des Umzugs der Kläger nach L.) gewährt der Beklagte den Klägern mangels örtlicher Zuständigkeit keine Leistungen mehr.
Auf die am 17. August 2011 von den Klägern erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg den Beklagten mit Urteil vom 22. März 2012 verurteilt, den Klägern für die Monate Juni und Juli 2011 weitere Leistungen für KdU i.H.v. 54,-- Euro pro Monat zu gewähren. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass der Maximalbetrag der angemessenen KdU im Sinne des § 22 SGB II nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) anhand eines sog. “schlüssigen Konzepts„ zu ermitteln sei (vgl. im Einzelnen: Seite 9 des Urteils). Da der Beklagte ein solches für seinen Zuständigkeitsbereich bislang nicht erstellt habe, sei auf die Werte in der Tabelle nach § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) abzustellen (erhöht um einen angemessenen Aufschlag von 10 Prozent). Für die Klägerin zu 1. als Alleinerziehende sei die angemessene Wohnfläche entsprechend den Niedersächsischen Wohnraumförderungsbestimmungen zudem von 75 qm (Drei-Personen-Haushalt) auf 85 qm (Vier-Personen-Haushalt) zu erhöhen. Der nach der Tabelle zum WoGG maßgebliche Betrag von 600,-- Euro (Vier-Personen-Haushalt - Mietenstu...