Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. selbst zu vertretende Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Verweigerung der Abgabe einer sog Freiwilligkeitserklärung. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer. allgemeines Persönlichkeitsrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Die Nichtabgabe einer von der Botschaft des Heimatlandes zur Ausstellung von Passersatzpapieren geforderten sog Freiwilligkeitserklärung (Erklärung freiwillig in das Heimatland zurückkehren zu wollen) stellt weder ein Verhalten nach § 1a Abs 3 AsylbLG noch eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer nach § 2 Abs 1 AsylbLG dar (Anschluss an BSG vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R = BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr 1).

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 9. Mai 2019 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vom 1.4.2019 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Zeiträume vom 1.1. bis 30.6.2019 (Klageverfahren - S 33 AY 9/19 -), 1.7. bis 31.12.2019 (Bescheide vom 1.8. und 10.10.2019) und 1.1. bis 30.6.2020 (Bescheid vom 20.12.2019), längstens jedoch bis zum 30.6.2020, vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII unter Anrechnung bereits für diesen Zeitraum bewilligter Leistungen zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Instanzen zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der nach § 1a AsylbLG eingeschränkte Leistungen beziehende Antragsteller begehrt im Wege des Eilrechtsschutzes Leistungen nach § 2 AsylbLG.

Der am 6.3.1980 geborene Antragsteller ist somalischer Staatsangehöriger. Er reiste am 19.5.2013 aus Italien kommend nach Deutschland ein. Sein Asylverfahren blieb erfolglos (Bescheid des BAMF vom 16.12.2014; rechtskräftiges Urteil des VG Stade vom 12.2.2016 - 1 A 2259/14 -). Er ist seither vollziehbar ausreisepflichtig und verfügt über eine Duldung, zunächst gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG und seit dem 9.9.2019 nach § 60b AufenthG in der seit dem 21.8.2019 geltenden Fassung. Der Antragsgegner - Ausländerbehörde - forderte ihn unter dem 7.7.2016 zur Ausreise bis zum 8.8.2016 auf. Mit Schreiben vom 15.5.2017 forderte er den Antragsteller auf, an der Beschaffung von Identitätspapieren mitzuwirken und alle die Identitätsfeststellung ermöglichenden Unterlagen vorzulegen. Der Antragsteller legte zwei Bescheinigungen der somalischen Botschaft in Berlin vom 6.6.2017 vor. Die eine bescheinigte ihm die somalische Staatsbürgerschaft und nach der anderen konnte die Botschaft dem Antragsteller aus Kapazitätsgründen weder einen Nationalpass noch Passersatzpapiere ausstellen. Der Antragsgegner teilte dem Antragsteller daraufhin Ende Juni 2017 mit, nach Auskunft der somalischen Botschaft würden dort unverzüglich Passersatzpapiere zum Zwecke der freiwilligen Ausreise ausgestellt. Mit E-Mail vom 5.3.2018 teilte der Antragsgegner dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Rahmen eines Schriftwechsels zu einer (erfolglos) beantragten Beschäftigungserlaubnis mit, da die vorgelegte Bescheinigung nicht der Praxis der somalischen Botschaft entspreche, werde davon ausgegangen, dass der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nicht vollumfänglich nachkomme und somit aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden könnten.

Der Antragsgegner gewährte dem Antragsteller ab Juni 2013 Leistungen nach § 3 AsylbLG und ab März 2015 Leistungen nach § 2 AsylbLG (Bescheid vom 23.3.2015 für März 2015 und in den Folgemonaten durch konkludente Bewilligungen mittels Zahlungen, zuletzt im Dezember 2018 i.H.v. 382,94 € nach Abzug 32,06 € Haushaltsenergiepauschale). Nachdem die Beschaffung von Identitätspapieren nach Aktenlage bis dahin zwischen den Beteiligten „kein Thema“ mehr war, hörte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 13.12.2018 zu der beabsichtigten Einschränkung der Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG wegen Nichterfüllung seiner Mitwirkungspflicht an. Der Antragsteller legte nochmals die beiden vorgenannten Bescheinigungen der Botschaft vor und rief schließlich am 7.1.2019 im Rahmen einer persönlichen Vorsprache bei der zuständigen Leistungs-Sachbearbeiterin des Antragsgegners die somalische Botschaft in Berlin an, die gegenüber der Sachbearbeiterin erklärte, der Antragsteller werde, wenn er erkläre, dass er freiwillig ausreisen wolle, ein Ausreisedokument erhalten. Der Antragsteller erklärte, er wolle nicht ausreisen. Daraufhin bewilligte der Antragsgegner ihm mit Bescheid vom 7.1.2019 gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG ab dem 1.1.2019 neben Sachleistungen für Unterkunft und Heizung nur noch eingeschränkte (Geld-) Leistungen i.H.v. 143,06 € (wiederum nach Abzug von 32,06 € für Haushaltsenergie). Den dagegen erhobenen Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 27.2.2019 zurück. In dem Widerspruchsbescheid holte der Antragsgegner die von § 14 Abs. 1 AsylbLG vo...

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