Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche Unionsbürger. fehlende Arbeitsmarktverbindung. Europarechtskonformität. Fürsorgeabkommen. Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung. Sozialhilfe Passbeschaffungskosten als Hilfe in sonstigen Lebenslagen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 greift bei EU-Bürgern dann ein, wenn diese noch keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt haben.

2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt weder gegen europäisches Primärrecht (Art 18, 21, 45 AEUV) noch gegen europäisches Sekundärrecht (Art 4 EGV 883/2004). Diese Rechtsauffassung hat hinsichtlich des europäischen Sekundärrechts auch vor dem Hintergrund der zum 1.5.2010 in Kraft getretenen EGV 883/2004 weiterhin Gültigkeit - Fortführung der bisherigen Rechtsprechung (vgl LSG Celle-Bremen vom 2.8.2007 - L 9 AS 447/07 ER = ZFSH/SGB 2008, 299).

3. Ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland kann sich im Rahmen der Geltendmachung von SGB 2-Leistungen nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA (juris: EuFürsAbk) berufen, weil die Bundesregierung mit Vorbehaltserklärung vom 15.12.2011, in Kraft ab 19.12.2011 (Bekanntmachung des Auswärtigen Amtes vom 31.1.2012, BGBl II 2012, 144), einen wirksamen Anwendungsausschluss ausgesprochen hat.

4. Die Vorbehaltserklärung der Bundesregierung umfasst jedoch nicht Leistungen nach dem EFA (juris: EuFürsAbk) iVm den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB 12.

5. Der Gesetzgeber hat mit § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 keine Abweichung von den Regelungen des EFA (juris: EuFürsAbk) vorgenommen.

6. § 21 S 1 SGB 12 steht einem Anspruch nach dem EFA (juris: EuFürsAbk) iVm den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB 12 nicht entgegen, wenn der Hilfebedürftige wegen der Regelung in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 keine Leistungen nach dem SGB 2 beanspruchen kann.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 9. Mai 2012 - S 46 AS 1049/12 ER - aufgehoben.

Die Beigeladene wird im Wege einstweiligen Rechtsschutzes dem Grunde nach verpflichtet, dem Antragsteller zum einen für die Zeit vom 16. März 2012 bis zu einer bindenden Entscheidung über dessen Antrag vom 10. November 2011 vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt sowie zum anderen auf dessen Antrag vom 25. Oktober 2011 vorläufig ein Darlehen zur Anschaffung eines Passes als Darlehen jeweils unter Berücksichtigung der bislang vorläufig von dem Antragsgegner erbrachten Leistungen zu gewähren.

Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Rechtszüge.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. aus G. als Prozessbevollmächtigten bewilligt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller und Beschwerdegegner begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung existenzsichernder Leistungen.

Der 1967 geborene Beschwerdegegner ist Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Er war - nach eigenem Vortrag - 27 Jahre Berufssoldat in der britischen Armee, befand sich sodann vier Jahre in Haft und hat von September 2009 bis März 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen. Im März 2011 zog er aus einer Bedarfsgemeinschaft mit einer weiteren Person aus, war zunächst wohnungslos und ist seit dem 8. Mai 2012 gegen eine Gebühr von monatlich 159,- € in der Unterkunft der Stadt G. - Fachbereich Planen und Stadtentwicklung / Stadterneuerung und Wohnen - untergebracht.

Mit Schreiben des Betreuers des Beschwerdegegners vom 21. Oktober 2011, bei dem Antragsgegner und Beschwerdeführer am 25. Oktober 2011 eingegangen, beantragte der Beschwerdegegner die Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes in Höhe von 176,-€ beim Britischen Konsulat. In der Verwaltungsakte des Beschwerdeführers findet sich ein als "Entwurf" überschriebenes, nicht unterschriebenes und nicht mit einem Absendevermerk versehenes Schreiben ohne Rechtsbehelfsbelehrung, in dem der Beschwerdeführer den Antrag auf Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes ablehnt.

Mit Schreiben des Betreuers des Beschwerdegegners vom 1. November 2011, bei dem Beschwerdeführer per Fax am 10. November 2011 eingegangen, beantragte der Beschwerdegegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und hielt seinen Antrag auf Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes aufrecht.

Soweit ersichtlich hat der Beschwerdeführer bislang zumindest nicht über den Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 10. November 2011 entschieden.

Der Beschwerdegegner hat am 16. März 2012 bei dem Sozialgericht (SG) Hannover einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.

Das SG hat den Beschwerdeführer mit Beschluss...

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