Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität. Anwendung auch auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht. verfassungskonforme Auslegung. Nichtvorliegen der Arbeitnehmereigenschaft. untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit. Europäische Sozialcharta
Leitsatz (amtlich)
1. Der Senat hält an seiner Auffassung fest (Festhaltung an LSG Celle-Bremen vom 15.11.2013 - L 15 AS 365/13 B ER = ZFSH/SGB 2014, 177), dass § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 Leistungen nach dem SGB 2 stets dann ausschließt, wenn kein anderweitiger Aufenthaltszweck als derjenige der Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht begründen kann, so dass auch solche Ausländer von Leistungen nach dem SGB 2 ausgeschlossen sind, die kein materielles Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet haben, weil sie wirtschaftlich inaktiv sind, ohne über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel zu verfügen oder ein Daueraufenthaltsrecht zu haben (§ 2 Abs 2 Nrn 5 und 7 iVm § 4 S 1 und § 4a FreizügG/EU; juris: FreizügG/EU 2004).
2. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2 folgt nicht aus Art 13 der Europäischen Sozialcharta (ESC; juris: EuSC). Die Rechte aus der ESC sind lediglich als Programmbestimmungen ausgestaltet und begründen keine individuellen Rechte. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Norm im innerstaatlichen Recht führt nicht ohne weiteres dazu, dass diese Norm auch ein subjektives Recht begründet. Wegen der eindeutigen anderslautenden Regelung in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 kann die ESC auch nicht im Wege der Auslegung oder Ausfüllung von Regelungslücken zur Begründung eines SGB 2 Anspruches für Ausländer, die nur über einen Aufenthaltszweck zur Arbeitsuche verfügen, herangezogen werden.
3. Es gibt keine starre Grenze in Bezug auf Einkommen oder Arbeitszeit oberhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft (§ 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU) bejaht werden muss. Im konkreten Fall stellt eine Tätigkeit als Reinigungskraft bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 2,95 Stunden an einem Tag in der Woche und einem Verdienst zwischen 110,88 EUR und 114,79 EUR monatlich eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit dar und begründet keine Arbeitnehmereigenschaft.
Orientierungssatz
Der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 für Unionsbürger verletzt nicht Europarecht.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 11. Juni 2014 wird aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 11. Juni 2014 ist begründet.
Zu Unrecht hat das SG den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 21. Mai bis zum 31. Oktober 2014 zu gewähren.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Absatz 2 S. 2 SGG haben nicht vorgelegen, da die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat. Ihr Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ist nach § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Antragstellerin, die I. Staatsbürgerin ist, gehört zu diesem Personenkreis. Die Voraussetzungen für ein anderes Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) oder gegebenenfalls dem begrenzt subsidiär anwendbaren Aufenthaltsgesetz (vgl. hierzu Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R) liegen nicht vor. Insbesondere ist die Antragstellerin weder abhängig beschäftigt noch als Selbstständige erwerbstätig.
Das behauptete Beschäftigungsverhältnis der Antragstellerin seit dem 19. Juli 2013 ist nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr geht der Senat nach Würdigung der hierzu gemachten Angaben und der vorgelegten Unterlagen davon aus, dass dieses Beschäftigungsverhältnis lediglich zu dem Zweck fingiert worden ist, Leistungsansprüche nach dem SGB II zu erlangen. Die Arbeitnehmereigenschaft setzt die Ausübung einer auf Entgelt gerichteten Tätigkeit im Wirtschaftsleben für einen anderen voraus. Der Senat vermag bereits die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit durch die Antragstellerin nicht zu erkennen. Die Antragstellerin hat zwar vorgetragen, dass sie eine Tätigkeit bei der Firma J. K. als Reinigungskraft ausübe und hieraus eine monatliche Vergütung von 110,88 € bzw. ab Februar 2014 i.H.v. 114,79 € erziele. Sie hat hierzu im Verfahren einen Arbeitsvertrag sowie Lohnabrechnungen für die Monate Juli 2013 bis Februar 2014 vorgelegt. Hiermit ist jedoch die tatsächliche Ausübung dieser Tätigkeit nicht glaubhaft gemacht. Es fällt z...