Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. am Ausgangsverfahren beteiligte minderjährige Kinder. fehlende Kenntnis vom Ausgangsverfahren bzw fehlendes Interesse der Kinder. Widerlegung der Vermutung eines immateriellen Nachteils. keine mehrfache Berücksichtigung des seelischen Unbills beim gesetzlichen Vertreter. Grundsicherungsleistungen. Zusicherung und Darlehen des Jobcenters für Umzug. Wegfall des Bedarfs nach erfolgtem Wohnungswechsel. erkennbare Aussichtslosigkeit der Ausgangsklage. Beeinträchtigung des Existenzminimums im Bewilligungszeitraum. kein kausaler Nachteil durch Verfahrensverzögerung bei nicht beantragtem Eilrechtsschutz. Wiedergutmachung auf andere Weise. dem Kläger zurechenbare Verzögerung. Nichtbeantwortung von gerichtlichen Anfragen. eine Erinnerung seitens des Gerichts ausreichend
Leitsatz (amtlich)
1. Nach dem klaren Wortlaut des § 198 Abs 1 S 1 GVG reicht es für den Entschädigungsanspruch nicht aus, dass der Entschädigungskläger an einem überlangen Gerichtsverfahren beteiligt war. Vielmehr muss er infolge der unangemessenen Dauer einen Nachteil erlitten haben.
2. Die Vermutung eines immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 S 1 GVG kann widerlegt sein, wenn der Entschädigungskläger von dem Ausgangsverfahren keine Kenntnis hatte und er damit eine durch die Ungewissheit über den Verfahrensausgang verursachte seelische Unbill nicht erlitten haben kann.
3. Eine verspätete oder verweigerte Antwort auf sachgerechte Anfragen des Gerichts ist ausschließlich der Verantwortungssphäre des Klägers zuzurechnen. Die hierdurch verursachte Verfahrensverzögerung kann keine unangemessene Verfahrensdauer begründen.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 3: Die dem Kläger anzurechnende Zeit der Verfahrensverzögerung beginnt nach der ersten Erinnerung seitens des Gerichts an die ausstehende Antwort und reicht bis zum Fortgang des Verfahrens (hier: durch Schriftsatz des Klägers mit der Bitte um baldigen Verfahrensabschluss nach fast zwei Jahren). Eine zweite Erinnerung ist nicht erforderlich.
2. Zum Leitsatz 2: Die Vermutung eines immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 S 1 GVG ist auch widerlegt, wenn der Entschädigungskläger (hier: die minderjährigen Kinder in der betroffenen Bedarfsgemeinschaft) von der Ausgangsklage, an der er formal beteiligt ist, zwar (hier: durch Ladung kurz vor Abschluss des Verfahrens) Kenntnis erlangt, sich aber überhaupt nicht weiter dafür interessiert hat.
3. Zwar erscheint es möglich, bei einer Beteiligung von minderjährigen Kindern im Ausgangsverfahren, den immateriellen Nachteil bei dem für sie handelnden gesetzlichen Vertreter (hier der Mutter) zu berücksichtigen. Ist der gesetzliche Vertreter jedoch selbst ebenfalls als Entschädigungskläger aktivlegitimiert, kann der seelische Unbill bei ihm nicht mehrfach in Ansatz gebracht werden.
4. Der Nachteil der Beeinträchtigung des Existenzminimums im streitbefangenen Bewilligungszeitraum für Grundsicherungsleistungen ist nicht kausal auf Verzögerungen des Gerichtsverfahrens zurückzuführen, wenn sie auch durch eine zügige Entscheidung des Sozialgerichts im angestrengten Verfahren nicht mehr rechtzeitig hätte ausgeglichen werden können (hier: weil kein Eilrechtsschutz beantragt worden ist).
5. Ein Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG ist zudem insoweit ausgeschlossen, als die dem Entschädigungsverfahren zugrunde liegende Klage erkennbar aussichtslos gewesen ist (vgl LSG Celle-Bremen vom 13.8.2019 - L 13/15 SF 26/18 EK AL).
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin zu 1) wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht Oldenburg zum Aktenzeichen S 49 AS 1306/16 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 800 € zu zahlen.
Es wird zugunsten der Klägerin zu 1) festgestellt, dass die Dauer des vor dem Sozialgericht Oldenburg zum Aktenzeichen S 49 AS 363/15 geführten Verfahrens unangemessen war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 34.500 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Kläger begehren Entschädigung wegen überlanger Dauer von drei Klageverfahren, die sie bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg geführt haben.
In dem Verfahren S 49 AS 363/15, an dem die 1976 geborene Klägerin zu 1) sowie ihre seinerzeit noch minderjährigen Kinder, die 1999 geborene Klägerin zu 2) sowie die 2002 geborenen Kläger zu 3) und 4), beteiligt waren, erhoben die Kläger am 24. März 2015 Klage gegen einen Bescheid des Jobcenters N., mit dem u. a. die Zusicherung zur Übernahme der Kosten für eine neue Unterkunft sowie die Übernahme einer Mietkaution in Höhe von 1.560 € abgelehnt worden waren. Die Kläger, die die in Rede stehende Wohnung zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits bewohnten, gaben in ihrer am 22. Mai 2015 eingegangenen Klagebegründung u. a. an, dass die Klägerin zu 1) hinsichtlich der Mietkaution zwischenzeitlich eine erste Rate an den Vermieter gezahlt habe. Der Restbetrag der Mietkaution sei noch offen. Nachdem die Kl...