Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Kosten einer stationären Krankenhausbehandlung. notwendige Beiladung des Krankenhausträgers. Leistungen bei Krankheit nach § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG. Abgrenzung zu den sonstigen Leistungen zur Sicherung der Gesundheit nach § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG. Kenntnis des Leistungsträgers vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen. Unerlässlichkeit der Leistung. allgemeine Grundsätze des Krankenversicherungsrechts. Ablehnung von Leistungen für Kinder
Leitsatz (amtlich)
1. Im Streit über den Anspruch der leistungsberechtigten Person gegen den Leistungsträger auf stationäre Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG ist der Träger des Krankenhauses nicht nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen.
2. Die Kenntnis von den Voraussetzungen für die Leistung iS des § 18 SGB XII ist bei Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG im Regelfall zu bejahen, wenn der Leistungsträger Kenntnis von einer (Grund-)Erkrankung bzw einem gesundheitswidrigen Zustand hat (zB Diabetes mellitus, HIV, psychische Beeinträchtigungen, körperliche Beschwerden); in diesen Fällen ist das Einsetzen der Leistung nicht von der Kenntnis der konkreten Behandlungsbedürftigkeit oder der im Einzelfall beabsichtigten Behandlung abhängig.
3. Die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG erfolgt danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG).
4. Zur Beurteilung, ob Leistungen zur Sicherung der Gesundheit iS des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG unerlässlich sind, sind als Kriterien einzubeziehen zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 eine besondere Bedeutung zu (Festhalten an LSG Celle-Bremen vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER = juris RdNr 27 sowie vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 und L 8 AY 47/18). In diesem Zusammenhang sind auch europarechtliche Vorgaben für die medizinische Behandlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen zu beachten. Die Kosten einer medizinischen Behandlung sind für die Beurteilung, ob sie unerlässlich iS des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG ist, nicht entscheidend.
5. Die Leistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG müssen allgemeinen Grundsätzen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts entsprechen, insbesondere hat die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig zu erfolgen (vgl § 28 Abs 1 S 1 SGB V). Sie muss wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (vgl § 12 Abs 1 SGB V). Eine vollstationäre Krankenhausbehandlung muss insbesondere den speziell geregelten Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 39 Abs 1 S 2 SGB V beachten.
6. Die Ablehnung einer nach den hiesigen Lebensverhältnissen medizinisch an sich erforderlichen Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw minderjährige Grundleistungsberechtigte als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässliche Leistung iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG bedarf einer besonderen Rechtfertigung.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. April 2022 und der Bescheid des Beklagten vom 16. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2020 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, der I. GmbH, Osnabrück, 20.047,39 € für die stationäre Behandlung der Klägerin vom 4. bis zum 15. September 2019 zu zahlen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist die Freistellung von Kosten für eine Krankenbehandlung (stationäre Entfernung einer Gallengangzyste) in Höhe von etwa 20.000,00 €.
Die 2014 geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige und reiste gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern im Februar 2019 nach Deutschland ein. Nachdem sie (mit ihren Familienangehörigen) beim Verwaltungsgericht Hannover Klage (3 A 1652/19) gegen die Ablehnung ihres Asylantrages (Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.3.2019) erhoben hatte, wurde sie mit ihrer Familie Ende April 2019 der im beklagten Kreis gelegenen Gemeinde J. (im Folgenden Gemeinde) zugewiesen (Bescheid der Landesaufnahmebehörde - LAB - Niedersachsen vom 29.4.2019). Da die Familie ihren Lebensunterhalt nicht mit eigenen Mitteln sicherstellen konnte, bezog die Klägerin während des Asyl- bzw. Klageverfahrens von der insoweit vom Beklagten herangezogenen Gemeinde sog. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.
Nachdem die Klägerin auf Veranlassung ihrer Kinderarztpraxis im Juli und Augu...