Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. Abgrenzung zum Erstattungsanspruch nach § 14 Abs 4 S 1 SGB 9 aF. Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers. Erforderlichkeit einer stationären Unterbringung. Art der im Vordergrund stehenden Behinderung. Ursächlichkeit der Behinderung oder eines Erziehungsdefizits für die konkrete Maßnahme. Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs für selbst erbrachte und für von einem anderen Jugendhilfeträger erbrachte und diesem erstattete Leistungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers für ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen ist bei einem sog Weitergewährungs- bzw Folgeantrag nicht nach § 14 SGB IX neu zu bestimmen (vgl BSG vom 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R = BSGE 129, 241 = SozR 4-3250 § 14 Nr 30, RdNr 14 f).

2. Für die Beurteilung, ob neben dem jugendhilferechtlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (Heimerziehung) auch ein inhaltlich entsprechender Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht, ist es unerheblich, ob die stationäre Maßnahme bei entsprechenden familiären Ressourcen nicht erforderlich gewesen wäre. Eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Leistungsverpflichtung des sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers besteht unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war (Anschluss an BSG vom 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R = BSGE 128, 36 = SozR 4-1300 § 111 Nr 10, RdNr 14).

3. Gegenstand eines Erstattungsverfahrens iS der §§ 102 ff SGB X sind nur Sozialleistungen, die der Erstattung fordernde Sozialleistungsträger selbst erbracht hat oder die ihm wegen eines Vertretungs- oder Auftragsverhältnisses kraft individueller oder genereller rechtsgeschäftlicher Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern oder kraft Gesetzes rechtlich zuzurechnen sind (vgl BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R = BSGE 102, 10 = SozR 4-2500 § 264 Nr 2, RdNr 22). Die einem bisher zuständigen Jugendhilfeträger nach § 89c Abs 1 S 1 SGB VIII von dem nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger erstatteten Leistungen sind diesem in einem Erstattungsstreit gegen einen möglicherweise vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger nicht als (eigene) Sozialleistungen iS des § 104 S 1 SGB X zuzurechnen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 21. März 2018 geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 1.359,17 € zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 386.133,54 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von für die Zeit von Ende Februar 1999 bis Mitte August 2008 angefallenen Aufwendungen der Jugendhilfe für Frau G. H., geb. I. J. (Hilfeempfängerin), i.H.v. etwa 386.000,00 €. Der klagende Landkreis, der diese Aufwendungen als Jugendhilfeträger der (vorleistenden) Stadt W erstatten musste, verlangt nun unter Berufung auf den Nachrang der Jugendhilfe seinerseits Kostenerstattung von dem beklagten bayerischen Bezirk, einem überörtlichem Sozialhilfeträger.

Anfang 1995 veranlasste das Jugendamt der Stadt W im Rahmen der Hilfe zur Erziehung die Unterbringung der am 24.7.1989 geborenen Hilfeempfängerin in einem Heim der Stiftung K. Katholischen Kinderpflege (später umbenannt in Jugendhilfe L., unter Trägerschaft des Diakonischen Werkes W) in W (Bescheid vom 26.1.1995); in der Einrichtung lebten bereits drei ältere Geschwister der Hilfeempfängerin, weil aufgrund der persönlichen Verhältnisse ihrer Eltern, insbesondere der chaotischen Wohnungssituation, das geistige und leibliche Wohl der Kinder gefährdet war. Anlass der Heimaufnahme der Hilfeempfängerin war insbesondere die Trennung ihrer Eltern; die Mutter lebte mit ihrem neuen Partner und einer weiteren Person in einer kleinen Einzimmerwohnung und war - auch wegen einer intellektuellen Minderbegabung - mit der Bewältigung der Trennung, Wohnungssuche, Arbeit, neuen Partnerschaft und der (alleinigen) Erziehung der ebenfalls bei ihr lebenden Hilfeempfängerin völlig überfordert.

Nachdem bei der Hilfeempfängerin wegen erheblicher Sprachentwicklungsstörungen in mehreren Bereichen (verzögerte Sprachentwicklung, multiple Stammelfehler, Dysgrammatismus, ein reduzierter Wortschatz, Verdacht auf Teilleistungsstörungen) eine körperlich wesentliche Behinderung i.S. des § 1 Nr. 6 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingH-VO) festgestellt worden war (vgl. die landesärztlichen Stellungnahmen des Prof. Dr. M., W, vom 2.11.1994 und 11.7.1995), gewährte ihr der Beklagte bis Juli 1996 sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe durch Kostenübernahme für eine (zusätzliche) Betreuung in einer Tagesstätte (Bescheide vom 23.1. und 20.10.1995). In dem im Juni 1995 vom Jugendamt erstellten Hilfepl...

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