Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Verordnung von Gerinnungsfaktoren. Wahl des kostengünstigeren Bezugswegs über pharmazeutische Unternehmen bzw Großhändler (anstelle von Apotheken). Wirtschaftlichkeitsprüfung. Bemessung des Regresses

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Verordnung von Gerinnungsfaktoren mussten Vertragsärzte und Medizinische Versorgungszentren nach der bis August 2020 geltenden Rechtslage auch dann den kostengünstigeren Bezugsweg über pharmazeutische Unternehmen bzw Großhändler (anstelle von Apotheken) wählen, wenn sie die Gerinnungsfaktoren anschließend nicht zur Selbstbehandlung an die Patienten abgaben.

2. Wird der Leistungserbringer wegen eines Verstoßes hiergegen in Regress genommen, ist bei der Bemessung des Regresses zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass der Krankenkasse bei Einhaltung des kostengünstigeren Bezugswegs eigene Aufwendungen für die Beschaffung und Abrechnung der Gerinnungsfaktoren erspart worden wären. Dass beim Betrieb einer hämostaseologisch ausgerichteten Praxis besondere Kosten wegen des Umgangs mit Blutgerinnungsfaktoren entstehen, ist demgegenüber unerheblich.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 17.03.2021; Aktenzeichen B 6 KA 21/20 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin und die Berufung des Beigeladenen zu 2. werden das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. April 2018 geändert und die Bescheide des Beklagten vom 18. Dezember 2012 insgesamt aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, über die von der Klägerin im August 2008 und im November 2009 beantragten Regresse wegen der Verordnung von Blutgerinnungsfaktoren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Berufung des Beigeladenen zu 2. zurückgewiesen.

Der Beklagte und der Beigeladene zu 2. tragen jeweils die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens zur Hälfte mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu 1., die diese selbst trägt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 648.963 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist die Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnung von Blutgerinnungsfaktoren.

Der Beigeladene zu 2. ist Facharzt für Transfusionsmedizin und Einzelunternehmer des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) K. in L.. Für das MVZ verordnete er in den Quartalen I/2007 bis I/2009 (außer in I/2008) für 14 der bei der klagenden Krankenkasse (KK) versicherten Mitglieder Blutgerinnungsfaktoren (Advate®, Fibrogammin®, Haemate®, Mononine®, Wilate®) iHv 3.360.784,30 Euro (brutto).

Im August 2008 und November 2009 beantragte die Klägerin bei der Prüfungsstelle Niedersachsen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung die Festsetzung eines sonstigen Schadens. Bei den verordneten Blutgerinnungsfaktoren sei die in § 47 Abs 1 S 1 Nr 2a des Arzneimittelgesetzes (AMG) vorgesehene Möglichkeit des Direktbezugs - vom pharmazeutischen Unternehmer/Großhändler unter Umgehung der Apotheken direkt an den Arzt - nicht genutzt worden. Dadurch seien der KK zusätzliche Kosten iHv insgesamt 648.963,15 Euro entstanden. Dem trat der Beigeladene zu 2. entgegen: Nach dem Gesetzeswortlaut sei ein Direktbezug von Arzneimitteln nur möglich, wenn es sich dabei „(…) um Gerinnungsfaktorenzubereitungen (…) im Rahmen der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung von Blutern (…)“ handele. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor, weil von den 14 bei der KK versicherten Mitgliedern nur zwei (die Patienten M.. und N..) Bluter seien und die Präparate Fibrogammin®, Haemate® sowie Wilate® nicht für Heimselbstbehandlungen eingesetzt würden. Außerdem sei die (Direkt-)Abgabe von Blutgerinnungsfaktoren an Patienten personell, strukturell und finanziell extrem aufwendig. Verhandlungen über diesen Umstand verweigere die Klägerin seit Jahren; die vorliegend durch den Bezug der Arzneimittel über eine Apotheke entstandenen Mehrkosten habe die KK daher selbst zu verantworten. Im Übrigen sei der von der Klägerin behauptete Schadensumfang weder nachvollziehbar noch hätte das MVZ die Blutgerinnungsfaktoren - ohne die weiterhin angestrebte Vereinbarung über eine Arzneimittelabgabe - kostengünstiger in Höhe der sogenannten Zentrumspreise direkt beim Hersteller/Großhändler beziehen können.

Im Anschluss setzte die Prüfungsstelle gegenüber dem Beigeladenen zu 2. mehrere Einzelregresse über insgesamt 648.963,15 Euro fest (Bescheide vom 25. November 2010, 17. Februar 2011, 14. Dezember 2011 und 9. Februar 2012). In dem sich daran anschließenden Widerspruchsverfahren hob der beklagte Beschwerdeausschuss die Bescheide der Prüfungsstelle aber wieder auf. Therapeutisch könnten die Präparate Fibrogammin®, Haemate® sowie Wilate® nur unter der Aufsicht eines in der Hämophilie-Behandlung erfahrenen Arztes eingesetzt werden. Dementsprechend hätten die im MVZ tätigen Ärzte die Präparate auch nicht zur Heimselbstbehandlung den Patienten überlassen, sondern in der Arztpraxis des MVZ verabreicht. Damit lägen schon die Voraussetzungen für einen Direktbezu...

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