Leitsatz (amtlich)

Der Abweg, der aufgrund einer inneren Ursache (hier Orientierungslosigkeit aufgrund einer Bewusstseinsstörung infolge diabetesbedingter Unterzuckerung) eingeschlagen wird, ist nicht vom Schutz der Wegeunfallversicherung umfasst.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 14. September 2021 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Arbeitsunfall (Wegeunfall).

Der I. geborene, an insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ I leidende Kläger verließ am 11. November 2016 gegen 17:00 Uhr seine Arbeitsstätte an der Adresse J. in K.. Er erlitt gegen 17:12 Uhr auf der L. in M. einen Verkehrsunfall als er auf die Gegenfahrbahn geriet und frontal mit einem Lkw zusammenstieß. Der Kläger erlitt dabei erhebliche Verletzungen, u.a. multiple Frakturen sowie ein Schädel-Hirn-Trauma mit Skalpierungsverletzung und wurde erst notärztlich und schließlich stationär behandelt. Das Einsatzprotokoll des Notarztes über das Unfallgeschehen hielt einen Blutzuckerspiegel von 50 mg/dl sowie die Erstdiagnose einer Hypoglykämie (Unterzuckerung), das Einsatzprotokoll des Rettungsassistenten einen Blutzuckerspiegel von 51,0 mg/dl fest. Zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls wohnte der Kläger an der Adresse N. in O. und war bei der A. beschäftigt.

Im Verwaltungsverfahren reichte der Kläger mit dem Fragebogen „Ergänzende Angaben zu einem Unfall auf dem Weg von und zur Arbeit“ eine Kartenansicht von „google maps“ seines üblichen Arbeitsweges ein und gab auf die Frage, aus welchem Grund er von dem gewöhnlichen Weg abgewichen sei, „wegen Unterzuckerung (lt. Aussage Arzt)“ an.

Mit Bescheid vom 10. Januar 2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfallereignisses als Arbeitsunfall ab. Zum Unfallzeitpunkt sei der Kläger über seinen Wohnort hinaus in südöstlicher Fahrtrichtung unterwegs gewesen. Sowohl sein Wohnort als auch sein Arbeitsort befänden sich in entgegengesetzter Richtung. Der Verkehrsunfall habe sich somit auf einem Abweg ereignet.

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Zu dessen Begründung trug er vor, dass die Beklagte die Beweislast für eine Abkehr vom versicherten Weg trage, da es sich bei der Unterbrechung oder Beendigung des Weges um eine anspruchshindernde Tatsache handele. Es ließe sich nicht feststellen, dass seine Handlungstendenz auf ein Verlassen des versicherten Arbeitsweges gerichtet gewesen sei. An den Unfall sowie die unmittelbare Zeit davor habe er keine Erinnerung. Es sei davon auszugehen, dass er [der Kläger] aufgrund der zum Unfallzeitpunkt festgestellten starken Unterzuckerung bereits vorher orientierungslos gewesen, daher an seiner Wohnung vorbeigefahren und deshalb auf den Abweg geraten sei. Er sei daher auf diesem weiter versichert gewesen. Auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. November 2004 - L 3 U 132/04 - werde insoweit verwiesen.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zog die Beklagte u.a. die Unfallakte des Landkreises P. bei und holte eine beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Q. vom 31. August 2017 ein, wonach die Blutzuckerwerte bei Aufnahme in die stationäre Behandlung und im weiteren Tagesverlauf keine Unterzuckerung ergeben hätten. Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2017 den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein irrtümlicher Abweg sei ausgeschlossen. Die Blutwerte hätten keine Unterzuckerung ergeben. Bei einer starken Unterzuckerung bereits an seinem Wohnort wäre der Kläger nicht mehr in der Lage gewesen - wie es Zeugen berichtet hätten - auf die Lichthupe entgegenkommender Pkw auf der übrigen Strecke bis zum Unfallort zu reagieren. Das Endziel des Weges sei unbekannt. Der fehlende Grund für die Abweichung vom direkten Weg gehe zulasten des Klägers. Auf das Urteil des BSG vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - werde insoweit verwiesen.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 24. Oktober 2017 beim Sozialgericht (SG) Klage erhoben. Zu deren Begründung hat er im Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft.

Im Rahmen des Klageverfahrens hat die Beklagte eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Q. vom 9. Februar 2018 beigebracht. Danach kann ein Orientierungsverlust i.S.e. isolierten Störung der Orientierung bei erhaltener Fähigkeit ein Auto zu lenken nicht als Folge einer Unterzuckerung auftreten. Es handele sich stets um eine systemische Reaktion des Körpers mit weiteren Symptomen wie z.B. Kopfschmerzen, Verstimmung, Reizbarkeit, Verwirrtheit und Koordinationsstörungen. Diese müssten belegt werden. Ohne andere Symptome sei ein Vorbeifahren des Klägers an seinem Wohnort aufgrund Unterzuckerung nicht möglich.

Auf Anordnung des SG hat der Facharzt für Innere Medizin Prof. Dr. R. am 6. Mai 2019 ein Gutachten erstattet. Danach litt der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls mit an Sicherheit...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge