Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Rückzahlungsanspruch der Krankenkasse gegenüber dem Apotheker bei Nichteinhaltung der landesvertraglichen Abgabebestimmungen. Schadenersatz aus positiver Vertragsverletzung
Orientierungssatz
1. In der Vorlage eines Kassenrezeptes an einen Apotheker durch einen Versicherten oder seinen Vertreter ist das Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages zwischen dem Apotheker und der Krankenkasse des Versicherten unter Berücksichtigung der Vorgaben des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung und der darauf beruhenden Verträge zwischen den Krankenkassen und den Verbänden der Apotheker zu sehen (vgl BSG vom 3.8.2006 - B 3 KR 6/06 R = SozR 4-2500 § 129 Nr 2).
2. Ein Apotheker verletzt leistungsbezogene Nebenpflichten schuldhaft, wenn er Rezepte mit korrigierten Mengenangaben ohne ärztliche Bestätigung einlöst. Dabei kann er sich nicht darauf berufen, dass er die Rezepte als Betreiber einer Großapotheke nicht selbst eingelöst hat, sondern einer seiner zahlreichen Mitarbeiter.
3. Nach den gewohnheitsrechtlich entwickelten Grundlagen der positiven Vertragsverletzung ist der Apotheker der Krankenkasse zum Ersatz des dadurch entstandenen Schadens verpflichtet.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 2005 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 47.003,54 ? nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 12. Juli 2001 zu zahlen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Rückforderung von Vergütungen für Medikamente. Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der bei der Klägerin versicherte R Sch suchte erstmals am 14. Oktober 1999 den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G in H auf. Er legte ihm ein gefälschtes Arztschreiben einer Dr. W von der C Universitätsklinikum B vor, wonach er seit 1990 als HIV positiv festgestellt worden sei und zu seiner Behandlung das Medikament INTRON A PEN mit 30 Millionen Einheiten eingesetzt werde. Dr. G stellte dem Versicherten ohne eigene Untersuchung mit Datum vom 14. Oktober 1999 ein Kassenrezept auf das Medikament INTRON A PEN 30 MIO ILO 8 ST N2 (im folgenden: INTRON A) aus. Der Komplize H des Versicherten versah das Rezept handschriftlich mit dem Zusatz "4x" und legte es in der G-Apotheke H vor, die von dem Beklagten geführt wird. Dort wurde ihm das Medikament in der verfälschten Menge ausgehändigt. Dafür wurden der Klägerin von dem Beklagten 24.514,92 DM berechnet und von dieser auch bezahlt. Der Versicherte Sch benötigte das Medikament INTRON A nicht, weil er von dem Arzt Dr K mit einer dreifachen Kombinationstherapie mit anderen Medikamenten behandelt wurde.
Dieser Vorgang wiederholte sich am 28. Oktober 1999, 11. November 1999, 23. November 1999, 9. Dezember 1999, 6. Januar 2000, 17. Januar 2000, 1. Februar 2000, 17. Februar 2000, 2. März 2000, 16. März 2000, 30. März 2000, 13. April 2000 und 18. April 2000. Am 14. Dezember 1999 wurde in der Apotheke des Beklagten ein weiteres Rezept des Dr. G vorgelegt, das hinsichtlich der Mengenangabe nicht ergänzt worden war. Dieses Rezept wurde von der Klägerin dementsprechend mit 6.128,73 DM an den Beklagten vergütet. Insgesamt zahlte die Klägerin auf die genannten Rezepte an den Beklagten einen Betrag von 349.337,61 DM.
Die Vorgänge wurden bekannt, weil Dr. G Anfang November 2000 von der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) darauf aufmerksam gemacht worden war, dass ihm wegen der Überschreitung seines Arzneimittelbudgets ein Regress drohe. Die daraufhin von Dr. G durchgeführten Recherchen bei der C in B ergaben, dass eine Ärztin Dr. W dort nicht bekannt war. Über die Klägerin wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet. Der Versicherte Sch und sein Komplize H, die die Medikamente an eben jenen Großhandelsbetrieb weiter veräußert hatten, von dem der Beklagte die Medikamente bezogen hatte, wurden von der 2. Strafkammer des Landgerichts Hannover durch Urteil vom 3. Juni 2003 zu mehrjährigen Freiheitsstrafen wegen Betruges und Urkundenfälschung verurteilt (AZ: StK 2/40 a 27/02).
Mit Anwaltsschreiben vom 13. März 2001 forderte die Klägerin den Beklagten zur Zahlung von 349.337,61 DM (= 178.613,48 ?) auf. Sie machte geltend, dass dem Beklagten bei der Einlösung der Rezepte hätte auffallen müssen, dass die geänderten Mengenangaben jeweils nicht vom Arzt abgezeichnet worden waren. Denn es habe sich bei dem verordneten Medikament um ein selten verschriebenes, sehr teueres Arzneimittel gehandelt. Daher hätte bereits bei dem ersten Versuch der Einlösung des verfälschten Rezeptes Rücksprache mit dem verordnenden Arzt genommen werden müssen. Der Beklagte habe vor diesem Hintergrund seine Pflichten als Apotheker verletzt und sei ihr, der Klägerin, aus diesem Grunde zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der dar...