Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenhausvergütung. Notwendigkeit einer vollstationären Behandlung in psychiatrischem Krankenhaus. Unterbringung in geschützter Abteilung und durchgehende Fixierung. keine medizinische Behandlung. Kontrolle der Fixierung keine 1:1 Betreuung. individuelles Behandlungskonzept. Dokumentationspflicht
Leitsatz (amtlich)
1. Die Unterbringung eines Versicherten in einem psychiatrischen Krankenhaus begründet nicht schon deshalb die Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung gemäß § 39 SGB V , weil sie wegen einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung in seltener Ausprägung mit Intelligenzminderung mit schwerwiegender Eigen- oder Fremdgefährdung erfolgt und eine geeignete dauerhafte Unterbringungsmöglichkeit bisher nicht gefunden wurde.
2. Die Unterbringung und Versorgung in einer geschützten Abteilung ist für sich keine medizinische Behandlung (vgl BSG vom 12.11.1985 - 3 RK 33/84 = SozR 2200 § 184 Nr 28). Auch eine durchgehende Fixierung stellt für sich keine medizinische Behandlungsmaßnahme dar, die der besonderen Mittel des Krankenhauses bedarf.
3. Die Kontrolle der Fixierung in regelmäßigen Abständen erfüllt nicht zugleich die Voraussetzungen einer 1:1 Betreuung nach dem OPS 9-640.
4. Ein individuelles therapieorientiertes Behandlungskonzept muss in der Patientenakte dokumentiert sein.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert im Berufungsverfahren wird auf 364.223,66 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Vergütung einer vollstationären Behandlung in der Psychiatrie im Zeitraum vom 24. September bis 1. Dezember 2018 und vom 2. Dezember 2018 bis 26. Oktober 2019.
Die Klägerin ist Trägerin eines nach§ 108 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zugelassenen psychiatrischen Krankenhauses. Dort ist die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte J. K. (Versicherte), geboren am L., seit Jahren untergebracht. Die intelligenzgeminderte Versicherte leidet an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (F60.30) mit anhaltender psychischer Dekompensation seit September 2018, massiven Selbstverletzungstendenzen und Fremdaggressivität sowie wiederkehrenden Fremdkörperingestitionen mit überwiegend endoskopischen Bergungen. Die Versicherte schluckte am 11. September 2018 einen 14 cm langen Löffel, am 22. September 2018 eine Zahnbürste und am 1. Dezember 2018 erneut einen Löffel.
Nach dem Zerbrechen der elterlichen Ehe bei alkoholkrankem und übergriffigen Vater wurde der allein erziehenden und überforderten Mutter bis zum 3. Lebensjahr der Versicherten eine Familienhelferin zur Seite gestellt. Ab dem 4. Lebensjahr zeigte die Versicherte Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Geschwistern. Mit 12 Jahren wurde sie erstmals wegen aggressiver Durchbrüche und Verdacht auf Minderbegabung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. stationär behandelt. Im Alter von 17 Jahren wurde eine ausgeprägte emotionale Störung mit aggressiven Impulsdurchbrüchen diagnostiziert. Nach Erreichen des 18. Lebensjahres befand sie sich im Jahr 2003 erstmals mit Unterbringungsbeschluss in stationärer Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie der Klägerin. Es wurde eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, die seither durchgehend besteht. Ab April 2004 wurde die Versicherte drei Jahre lang vollstationär behandelt. Seitdem ist sie durchgehend - unterbrochen durch diverse Aufenthalte in anderen Krankenhäusern der Region - im Klinikum der Klägerin untergebracht. Eine geeignete dauerhafte Unterbringungsmöglichkeit wurde für die Versicherte nicht gefunden.
Nach einer Fallkonferenz im Februar 2007 wurde bei fachärztlich attestierter fehlender Perspektive außerhalb des Krankenhauses die Kostenzusage der Beklagten zum April 2007 beendet und die Versicherte verblieb ab 13. April 2007 mit einem Langzeitbeschluss über Sozialhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für vollstationäre Unterbringung im Wohnbereich der Klägerin. Im Verlauf war der Sozialhilfeträger nicht damit einverstanden, den Fall nach PEPP Entgeltsätzen abzurechnen. Mit Beschluss vom 12. Januar 2018 verlängerte das Betreuungsgericht auf Antrag der Betreuerin die Unterbringung bis zum 11. Januar 2020 (Amtsgericht Lehrte, - 3 XVII V 73 - ).
Am 11. September 2018 schluckte die Versicherte einen 14 cm langen Löffel in suizidaler Absicht, der zu einer notfallmäßigen Aufnahme in der N. (O.) führte. Da eine endoskopische Bergung nicht möglich war, wurden zwei notfallmäßige Laparotomien erforderlich. Postoperativ zeigte sie zeitweilig extreme Unruhe und massive Fremdaggressivität, sodass sie wiederholt fixiert werden musste.
Am 18. September 2018 wurde die Versicherte in die Psychiatrie der Klägerin entlassen und wegen anhaltender Übelkeit und Erbrechen vom 21. b...