Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsminderung. besondere versicherungsrechtliche Voraussetzungen. Verlängerung des Fünfjahreszeitraumes. Haft. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Der für die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente maßgebliche Fünfjahreszeitraum ist unter Berücksichtigung des grundrechtlich gewährleisteten Eigentumsschutzes an Rentenanwartschaften um Zeiten einer Inhaftierung zu verlängern, soweit insbesondere aufgrund sowohl vorausgegangener als auch nachfolgender Zeiten der Beschäftigung bzw vergleichbarer Zeiten der Wille zur weiteren Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung belegt und damit eine fortbestehende Nähe zum aktiven Erwerbsleben dokumentiert ist.
Orientierungssatz
1. Der Resozialisierungsgrundsatz verpflichtet den Staat, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges auf die Inhaftierten im Rahmen des Möglichen zu begegnen (vgl BSG vom 29.3.2007 - B 9a VG 2/05 R = BSGE 98, 178 = SozR 4-3800 § 2 Nr 2, BVerfG vom 5.2.2004 - 2 BvR 2029/01 = BVerfGE 109, 133, BVerfG vom 19.4.2006 - 2 BvR 818/05 und Entgegen BSG vom 26.5.1988 - 5/5b RJ 20/87 = SozR 2200 § 1246 Nr 157).
2. Dieser Ansatz schließt es gerade aus, mit einem (längerfristigen) Freiheitsentzug (jedenfalls typischerweise) einen zusätzlichen schwerwiegenden Rechtsnachteil in Form des Entzuges der Erwerbsminderungsrentenanwartschaften zu verknüpfen. Damit wird dem Häftling (für den Fall der Realisierung eines entsprechenden Risikos der Erwerbsminderung innerhalb des erläuterten Zeitraums) gerade die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Sicherstellung seines Lebensunterhalts genommen (vgl BSG vom 29.3.2007 - B 9a VG 2/05 R aaO). Eine solche Interpretation der gesetzlichen Vorgaben würde die schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges auf die Inhaftierten gerade nicht im Rahmen des Möglichen begrenzen, sondern diese sogar ausdehnen.
3. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 43 SGB 6 in dem vorstehend erläuterten Sinne, dass der nach § 43 Abs 2 SGB 6 maßgebliche Fünfjahreszeitraumes auch durch Haftzeiten bei fortbestehendem hinreichenden inneren Zusammenhang zum aktiven Erwerbsleben verlängert wird, überschreitet nicht den Rahmen der den Gerichten nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben obliegenden Gesetzesinterpretation.
4. Anwartschaften der Versicherten auf Erwerbsminderungsrenten bilden nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechtspositionen, die den Schutz der Eigentumsgarantie aus Art 14 Abs 1 GG genießen (vgl BVerfG vom 8.4.1987 - 1 BvR 564/84 ua = BVerfGE 75, 78 = SozR 2200 § 1246 Nr 142).
5. Das BSG hat aus dem "Gesamtplan" der entsprechenden Regelung gefolgert, dass einem Anrechnungszeittatbestand auch mehrere unmittelbar aufeinanderfolgende Anrechnungs- oder Ersatzzeittatbestände vorausgehen können, ohne dass dadurch die Annahme einer Unterbrechung einer versicherten Beschäftigung iS von § 58 Abs 2 SGB 6 aufgehoben wäre (vgl BSG vom 1.2.2001 - B 13 RJ 37/00 R = SozR 3-2600 § 58 Nr 16).
Nachgehend
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 27. Mai 2010 und der Bescheid der Beklagten vom 3. November 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2007 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin ab September 2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren und ihre Bescheide vom 16. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2005 und vom 4. November 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2006 zurückzunehmen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die 1962 geborene Klägerin begehrt eine Erwerbsminderungsrente.
Die Klägerin nahm von 1978 bis 1980 ohne Abschluss an einer Ausbildung zur Verkäuferin teil. In späteren Jahren war sie als Bürokraft berufstätig. Etwa 1990 erkrankte sie an einem bösartigen Tumor der linken Brustdrüse. Der Tumor konnte brusterhaltend vollständig entfernt werden; diesbezüglich blieben Nachsorgeuntersuchungen bislang unauffällig.
Vom 19. April 1999 bis 19. März 2004 war die Klägerin in der JVA I. inhaftiert. Während der Haftzeit übte sie als Freigängerin ein sozialversicherungspflichtiges vollschichtiges Beschäftigungsverhältnis als Bürokraft vom 5. Juni bis 24. Juli 2000 und vom 1. August 2000 bis zum 31. Juli 2002 aus. Vom 25. bis 31. Juli 2000 sind für sie Pflichtbeiträge aufgrund von Arbeitslosigkeit entrichtet worden. Während der übrigen Haftzeiten war die Klägerin in der JVA mit Gefangenenarbeiten befasst, dafür sind keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden.
Nach der Haftentlassung der Klägerin sind für diese ab dem 20. März 2004 bis jedenfalls Ende 2006 Pflichtbeiträge bedingt durch Arbeitslosigkeit entrichtet worden.
Am 23. August 2004 wurde die Klägerin aufgrund eines Plattenepithelcarcinoms der Cervix uteri operiert. Es schlossen sich weitere Operat...