Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Hinterbliebenenleistungen gem § 63 Abs 1 SGB 7. Verjährung durch Zeitablauf. spätere Kenntnis des Unfallversicherungsträgers vom Versicherungsfall. Einrede der Verjährung. Rechtmäßigkeit. keine unzulässige Rechtsausübung. Treu und Glauben. Ermessen. Kenntnisnahme aus einem Presseartikel einer Zeitschrift. mehrere Tötungsdelikte eines Krankenpflegers über mehrere Jahre in verschiedenen Kliniken. Abwarten der staatsanwaltlichen Ermittlungen. intern entwickelter Maßstab zur Anerkennung dieser Versicherungsfälle
Orientierungssatz
1. Zur rechtmäßigen Geltendmachung der Verjährungseinrede durch den Unfallversicherungsträger, wenn die Verjährung etwaiger Leistungen bereits durch Zeitablauf eingetreten waren, und der Unfallversicherungsträger erst durch eine (über zehn Jahre spätere) Pressemitteilung eines Nachrichtenmagazins bzw durch das sich anschließende staatsanwaltliche Verfahren (hier: Serien-Tötungsdelikte eines Krankenpflegers an Patienten während des stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus) von dem Versicherungsfall Kenntnis erlangt hatte.
2. Hat der Unfallversicherungsträger unmittelbar nach Kenntnisnahme möglicher Versicherungsfälle eine erste überschlägige interne Prüfung vorgenommen, umfangreiche interne Prüfkriterien für die Anerkennung von Leistungsansprüchen entwickelt und nach Auswertung der dazu geführten polizeilichen und strafrechtlichen Prozessakten diese auch umgesetzt, liegt kein Fehler bei der Ermessensausübung hinsichtlich der Erhebung der Verjährungseinrede vor.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. November 2022 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf Euro 5.000,--festgesetzt.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld bereits vor dem 1. Januar 2010 hat und die Beklagte sich im Rahmen der Leistungsgewährung auf die Verjährungseinrede nach § 45 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeine Vorschriften (SGB I) berufen kann.
Die Klägerin ist laut des gemeinschaftlichen Erbscheins des Amtsgerichts M. vom 17. Juni 2016 je zur Hälfte (Mit-) Erbin und Tochter der am N. verstorbenen Frau O., die wiederum Sonderrechtsnachfolgerin ihres an den Folgen eines Versicherungsfalls vom 27. August 2003 noch am selben Tag verstorbenen Ehegatten (im Folgenden: Versicherter) Herrn P. ist. Der weitere (Mit-) Erbe und Sohn der verstorbenen Frau O., Herr Q., führt ein Klageverfahren beim Sozialgericht (SG) R. (Az.: S 7 U 71/20) zur selben Rechtsfrage.
Die Beklagte ist der zuständige Unfallversicherungsträger (§ 136 Abs. 3 Nr. 2 Siebentes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII) für die kraft Gesetzes versicherten Personen (§ 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII, die auf Kosten der Träger der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse (= Maßnahme- bzw. Rehabilitationsträger) stationäre oder teilstationäre oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinische Rehabilitation erhalten und in diesem einen - u.U. tödlich verlaufenden - Versicherungsfall im Sinne des § 8 SGB VII erleiden.
Aus den am 12. November 2014, 1. September 2017, 6. Oktober 2017, 15. Mai 2018 und 21. August 2018 erstellten Aktenvermerken geht hervor, dass die Beklagte aufgrund eines am 12. November 2014 in der Zeitschrift „Spiegel-Online“ veröffentlichten Presseartikels (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/krankenpfleger-unter-verdacht-soko-soll-alle-todesfaelle-pruefen-a-1002584.html, zuletzt abgefragt am 18. Juli 2023) Kenntnis darüber erhielt, dass der Krankenpfleger S. zu einer lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden sei, weil er während seiner Tätigkeiten vom 15. Juni 1999 bis 14. Dezember 2002 im Klinikum R. und vom 15. Dezember 2002 bis 22. Juli 2005 im Klinikum M. durch medizinisch nicht indizierte Gaben von verschiedenen Medikamenten gezielt reanimationspflichtige Notsituationen von einer Vielzahl von Patienten provoziert habe, die zum Teil zu deren Tod geführt hätten. Es habe der Verdacht bestanden, dass S. für mehr als hundert Todesfälle verantwortlich sei.
Die Beklagte hielt in ihrem Aktenvermerk vom 12. November 2014 fest, dass eine Beurteilung, ob und ggf. welche Personen von dem Pfleger S. in der vermuteten Weise geschädigt worden seien, erst nach Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen möglich sein werde, weshalb die Entwicklung des Falles zu beobachten sei.
Nach einer Anforderung der strafrechtlichen Prozessakten des Landgerichts R. im Dezember 2017 und Juni 2018 erhielt die Beklagte Angaben über potentielle Opfer. Aufgrund dessen befasste sich die Beklagte u.a. auch mit der rechtlichen Problematik, ab welchem Zeitpunkt Leistungsansprüche eventuell leistungsberechtigter Personen entstünden und ob und ggf. ab wann eine Verjährung der Ansprüche a...