Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. genetisch bedingter Darmkrebs. Heilungsbewährung. hohes Rückfallrisiko. Angst vor Rezidiven. keine Verlängerung der Heilungsbewährungszeit. Neufeststellung des GdB. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Der Wortlaut in Teil B, Ziffer 1 c VMG, wonach die Zeit der Heilungsbewährung bei Krebserkrankungen in der Regel fünf Jahre beträgt, eröffnet nicht die Möglichkeit einer Einzelfallentscheidung in Bezug auf eine Bestimmung des jeweils individuell angemessenen Zeitraums, etwa in Bezug auf die durch eine Erbkrankheit erhöhte Gefahr eines Rezidivs.
Orientierungssatz
Verbleibende Ängste aufgrund einer erhöhten Rezidivgefahr sind im Einzelfall als seelische Störung nach Teil B Nr 3.7 der in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) zu berücksichtigen (so auch LSG Hamburg vom 26.11.2013 - L 3 SB 13/10; aA wohl LSG Chemnitz vom 25.5.2005 - L 6 SB 55/04).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Herabsetzung ihres Grades der Behinderung (GdB) gemäß Neufeststellungsbescheid vom 2. März 2011.
Nachdem bei der 1951 geborenen Klägerin sowohl im Bereich der Eierstöcke als auch des Darms eine Krebserkrankung festgestellt und behandelt worden war, stellte die Beklagte den GdB der Klägerin mit Bescheid vom 25. Oktober 2005 mit 100 fest, wobei sowohl für die Eierstockerkrankung als auch für die Darmerkrankung jeweils ein Einzel-GdB von 80 zugrunde gelegt wurde. Im Jahr 2010 ergab eine von Amts wegen durchgeführte Nachprüfung der Beklagten, dass nach den Angaben der behandelnden Ärzte keine Anhaltspunkte für Rezidive oder Metastasen bestanden. Der behandelnde Frauenarzt Dr. I. teilte mit, die Klägerin klage über ausgeprägte Schmerzen aufgrund von Verwachsungen nach der Operation, hinzu komme eine große Angst vor eventuellen Rezidiven. Nach durchgeführter Anhörung der Klägerin setzte die Beklagte durch Neufeststellungsbescheid vom 2. März 2011 den GdB auf 30, dies wegen der Verwachsungsbeschwerden nach Eierstock- und Darmteilentfernung, herab. Hiergegen legte die Klägerin mit der Begründung Widerspruch ein, bei ihr bestehe aufgrund einer vorliegenden Erbkrankheit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Neuerkrankung, dementsprechend bestehe auch eine erhöhte psychische Beeinträchtigung aufgrund ständig vorhandener Angst. Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 10. August 2011 zurück.
Die Klägerin hat am 6. September 2011 Klage erhoben. Sie hat sich in der Begründung ihrer Klage erneut darauf berufen, sie müsse in der ständigen Angst vor Auftreten eines Rezidivs leben, gerade auch in der Zeit nach der Heilungsbewährung. Dies folge aus der durch Prof. Dr. J. am 21. Dezember 2010 mitgeteilten Diagnose “HNPCC„. Das hereditäre Dickdarm-Karzinom ohne Polyposis (HNPCC) ist die häufigste erbliche Darmkrebsform und betrifft etwa 5 % der Darmkrebsfälle; bei etwa 75 % der Genträger tritt ein Kolonkarzinom auf.
In der Folgezeit hat die Klägerin angegeben, wegen der bestehenden Angst bei dem Arzt für Allgemeinmedizin K. in betriebsärztlicher Behandlung zu sein. Dieser hat dargelegt, er führe regelmäßige stützende Gespräche wegen der Angstsymptomatik mit der Klägerin durch. Es handele sich um eine lebenslang andauernde Erbkrankheit mit erheblich erhöhtem Rezidivrisiko, wie der Arzt näher ausgeführt hat. Er habe ihr deshalb empfohlen, auch nach ihrer Berentung eine weitergehende psychotherapeutisch begleitende Therapie wegen ihrer Angststörungen weiterzuführen. In einer Stellungnahme hat die Sozialmedizinerin Dr. L. vom versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten darauf verwiesen, eine “Verlängerung„ der Heilungsbewährung in besonderen Risikokonstellationen sei nicht Bestandteil der versorgungsmedizinischen Grundsätze - VMG - und auch nicht in Einzelfällen einzuräumen.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat ein Sachverständigengutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. eingeholt, das diese am 21. November 2013 erstattet hat. Dort hat die Klägerin geschildert, nach Feststellung ihrer Krebserkrankungen habe sich unter der Chemotherapie eine Polyneuropathie schwerpunktmäßig an den Füßen, weniger an den Händen ausgebildet. Sie habe auch immer wieder phasenweise Probleme mit Bauchschmerzen gehabt. Man vermute Darmstörungen bei Verwachsungen, habe jedoch nichts Erklärendes gefunden. An beiden Füßen habe sie weiterhin Taubheitsgefühle, und wenn sie länger auf den Beinen sei, auch Schmerzen. Sie habe auch Schlafstörungen. Mit ihrer Arbeit als Sachbearbeiterin in einer Rechtsabteilung komme sie zurecht, wenn sie auch immer das Gefühl habe, der Nachtschlaf fehle ihr. Nachrichten von wiederauftretenden Krebserkrankungen anderer beschäftigten sie viel mehr als einen gesunden Menschen. Auch habe sie Angst, dass ihre 1987 geborene Tochter ebenfalls betroffen sei. Sie führe nach wie vor eine glü...