Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Misshandlungen durch die Eltern in der frühen Kindheit. Glaubhaftmachung. Erinnerungsvermögen. kein biografisches Gedächtnis im ersten Lebensjahr. psychische Gewalt

 

Leitsatz (amtlich)

Im ersten Lebensjahr wird noch kein biografisches Gedächtnis ausgebildet. Eine Wiedererinnerung an Ereignisse aus dieser Zeit ist also nur schwer vorstellbar. Zudem sind wiederentdeckte Erinnerungen an sich eher selten und nicht sehr zuverlässig.

 

Orientierungssatz

Psychischer Missbrauch durch die Mutter wird nicht vom Schutzbereich des § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst.

 

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. Januar 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um die Gewährung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die am I. 1946 geborene Klägerin, die ausgebildete Schneidermeisterin ist, ist seit vielen Jahren psychiatrisch erkrankt. Sie ist bereits zu Beginn der Neunzehnhundertneunzigerjahre psychiatrisch behandelt worden. Von Februar bis Mai 1998 hatte sie sich aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses nach dem Niedersächsischen PsychKG im niedersächsischen Landeskrankenhaus J. aufgehalten. Dieses teilt in seinem Entlassungsbericht vom 20. Juli 1998 mit, es sei die Diagnose einer bipolaren affektiven Psychose mit paranoidem Beiwerk gestellt worden. Im September 1998 und 1999 hat der Neurologe und Psychiater Dr. K. die Klägerin für die Landesversicherungsanstalt L. gutachtlich untersucht. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege eine manisch depressive Psychose bzw. eine bipolare affektive Psychose vor. In seinem Gutachten von 1999 hat er ausgeführt, die Prognose habe sich insoweit verschlechtert. Das Städtische Klinikum L., psychiatrische Abteilung hatte im April 2000 berichtet, es sei im März 2000 zu einer akuten Exazerbation einer chronischen Psychose mit paranoider Symptomatik gekommen.

Im Februar 2003 beantragte die Klägerin bei dem beklagten Land, bei ihr Schädigungsfolgen nach dem OEG festzustellen und ihr Versorgungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung wies sie in mehreren Anschreiben darauf hin, sie sei von ihrem Vater und ihrer Mutter sowohl sexuell als auch psychisch missbraucht worden. Ihr Vater habe sie bereits im ersten Lebensjahr sexuell missbraucht. Ab dem dritten Lebensjahr habe er ihr “nasse Küsse„ gegeben und ihr in die Hose gegriffen. Der Vater sei 1950 nach Schweden ausgewandert. Dort habe sie ihn mehrfach besucht. Anlässlich dieser Besuche sei es ebenfalls zu Übergriffen ihres Vaters gekommen.

Im Hinblick auf ihre Mutter gab die Klägerin im Wesentlichen an, diese habe sie ständig psychisch missbraucht. Sie habe ihr nicht erlaubt ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden und sie ständig herabgesetzt. Zudem sei sie von ihrer Mutter vielfach mit einer Peitsche (Klabatsche) geschlagen worden.

Das beklagte Land leitete Ermittlungen ein, zog Befundberichte der behandelnden Ärzte und Therapeuten bei und lehnte den Antrag sodann mit Bescheid vom 19. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2009 ab. Zur Begründung wies das beklagte Land insbesondere auch darauf hin, soweit die Klägerin Handlungen in Schweden als Schädigungen geltend mache, könne dahingestellt bleiben, ob diese Handlungen stattgefunden hätten. Sie hätten sich jedenfalls außerhalb des Geltungsbereichs des OEG abgespielt. Weiter hat das beklagte Land darauf hingewiesen, dass das OEG erst am 16. Mai 1976 in Kraft getreten sei. Für Schädigungen, die vorher zugefügt worden seien, komme eine Entschädigung nur in ganz besonderen Fällen in Betracht. Derartige Schädigungen seien aber weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden.

Im Februar 2009 ist Klage erhoben worden, mit der die Klägerin die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie die Zuerkennung eines Grades der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 erstrebt hat.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klägerin durch die Diplom-Psychologin M. untersuchen lassen (Gutachten vom 14. September 2012). Die Sachverständige hat die Klägerin viermal jeweils mehr als drei Stunden exploriert. Sie ist - zusammengefasst - zu dem Ergebnis gelangt, der Klägerin fehle es aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung an der allgemeinen und konkreten Zeugenfähigkeit. Die Hypothese, dass es sich bei den von der Klägerin geschilderten Ereignissen um Pseudoerinnerungen handele, könne nicht zurückgewiesen werden. Ergänzend wird auf das umfängliche Gutachten Bezug genommen.

Die Klägerin hat zu dem Gutachten Stellungnahmen der Diplom-Psychologin Dr. N. und der Psychiaterin Dr. O. vom 24. Mai und 25. Oktober 2013 vorgelegt.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 27. Januar 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es zunächst dara...

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