Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Analogleistung. Übernahme von Fahrt- und Übernachtungskosten für die Wahrnehmung eines Anhörungstermins im Asylverfahren. sonstige Leistung nach § 6 AsylbLG. Sozialhilfe. Hilfe in sonstigen Lebenslagen. atypische Bedarfslage. Erbringung von Geldleistungen als Beihilfe. Ermessensreduzierung auf Null

 

Leitsatz (amtlich)

1. Leistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG können aus § 6 AsylbLG keine Rechte herleiten.

2. Die für die Wahrnehmung eines Anhörungstermins im Asylverfahren erforderlichen Fahrt- und Übernachtungskosten können einen atypischen Bedarf im Sinne des § 73 SGB XII darstellen. Im Falle einer Anspruchsberechtigung sind Geldleistungen nach § 73 Abs 1 S 2 SGB XII als Beihilfe zu erbringen (Ermessensreduzierung auf Null).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 24.06.2021; Aktenzeichen B 7 AY 5/20 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger werden das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Juli 2017 und der Bescheid der Stadt Hildesheim vom 15. Juli 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 19. Dezember 2016 aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern 191,25 € zu zahlen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger für das Verfahren zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Übernahme von Fahrt- und Übernachtungskosten für die Wahrnehmung eines Anhörungstermins im Asylverfahren in Höhe von 191,25 €.

Die 1987 und 1982 geborenen Kläger sind ukrainische Staatsangehörige, verheiratet und die Eltern eines 2013 geborenen Sohnes. Mitte Juli 2014 reiste die Familie mit einem Besuchsvisum nach Deutschland ein und hielt sich zunächst bei der Mutter des Klägers in der im Kreisgebiet des Beklagten gelegenen Stadt Hildesheim auf. Im Oktober 2014 suchten sie um Asyl nach und wurden dem Landkreis G. zugewiesen; die Antragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgte wegen übermäßiger Arbeitsbelastung des Amtes Anfang Juni 2015. Hintergrund der Asylanträge war die Einberufung des im Alter von 18 Jahren aus medizinischen Gründen zunächst als wehruntauglich eingestuften Klägers zum Wehrdienst in seinem Heimatland Anfang Juli 2014. Auf seine (anfängliche) Weigerung, den Wehrdienst anzutreten, sei er in einem Militärkommissariat über Nacht inhaftiert und bedroht worden und habe schließlich aus der Not heraus der Einberufung zugestimmt. Im Juli 2015 wurden die Kläger, die während des Asylverfahrens über Aufenthaltsgestattungen verfügten, nach Hildesheim umverteilt (Bescheid der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen - Standort Braunschweig - vom 20.7.2015). Ihre Asylanträge wurden vom BAMF abgelehnt (Bescheide vom 22.5.2017).

Ende Juni 2016 legten die Kläger beim Sozialamt der Stadt Hildesheim die Ladung des BAMF zur Anhörung vom 24.6.2016 für den 5.7.2016, 8.00 Uhr, in Ingolstadt vor und erkundigten sich wegen der Übernahme von Fahrt- und Hotelkosten. Nachdem sie - im Ergebnis erfolglos - die Verlegung der Anhörung zu der Außenstelle des BAMF in Braunschweig beantragt hatten (Schreiben vom 30.6.2016), begaben sie sich mit ihrem Sohn und der Mutter des Klägers - in deren Pkw - am Vortag der Anhörung nach Ingolstadt und übernachteten dort in einem Hotel. Die Kosten für die Fahrt und das Familienzimmer wurden (zunächst) von der Mutter des Klägers getragen. Den bei der Stadt Hildesheim am 8.7.2016 eingegangenen (schriftlichen) Antrag auf Kostenübernahme lehnte der Beklagte u.a. mit der Begründung ab, die geltend gemachten Benzin- und Hotelkosten in Höhe von (geschätzt) 107,25 € bzw. 84,00 € (Gesamtkosten: 191,25 €) seien aus den den Klägern gewährten Regelsätzen zu bestreiten. § 6 AsylbLG finde bei einer Leistungsberechtigung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG keine Anwendung (Bescheid der Stadt Hildesheim vom 15.7.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 19.12.2016). Tatsächlich bezogen die Kläger vom Beklagten lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem AsylbLG, seit November 2015 bewilligt durch die insoweit herangezogene Stadt Hildesheim nach § 2 AsylbLG, für Juli 2016 unter Anrechnung des Erwerbseinkommens der Klägerin von ca. 570,00 € (netto) bzw. in anrechenbarer Höhe von 395,58 € (Bescheid der Stadt Hildesheim vom 1.8.2016).

Die gegen die Ablehnung der Kostenübernahme am 6.1.2017 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim nach persönlicher Anhörung der Klägerin und Vernehmung der Mutter des Klägers, der Zeugin H., durch Urteil vom 13.7.2017 abgewiesen und u.a. zur Begründung ausgeführt, die Kosten für die Wahrnehmung des Anhörungstermins seien zwar dem Grunde und der Höhe nach gerechtfertigt gewesen und nicht vom Regelbedarf zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts (27b Abs. 2 SGB XII) umfasst. Hilfen in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII (analog) kämen gleichwohl nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber für Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 AsylbLG - wie die Kläger - einen Anspruch nach § 6 AsylbLG, der eine Hilfegewährung zur Erfüllung verwaltungsrechtlicher Mitwirkungs...

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