Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. frühkindlicher Autismus. rückwirkende GdB-Feststellung ab Geburt. GdB von 50. Bemessungsgrundsätze in den ersten zwei Lebensjahren. manifestierte Auffälligkeiten. tatsächliche Einschränkung der Teilhabemöglichkeiten. Merkzeichen H. Hilflosigkeit. Zuerkennung nur bei erheblich gesteigertem Pflegemehraufwand. keine regelhafte Hilflosigkeit bis zum 18. Lebensjahr
Leitsatz (amtlich)
Zur Bewertung des frühkindlichen Autismus nach den VMG in den ersten zwei Jahren nach der Geburt und zur Auslegung von Teil B Nr 3.5.1 VMG.
Orientierungssatz
1. Die Feststellung eines GdB wegen eines gesicherten frühkindlichen Autismus ist rückwirkend auch ab der Geburt möglich, wenn sich bereits ab Geburt hinreichend gesichert besondere Auffälligkeiten manifestieren, die nach dem Stand der Wissenschaft als frühe Kennzeichen für einen frühkindlichen Autismus zu werten sind (so auch LSG Chemnitz vom 27.6.2016 - L 9 SB 115/13 = juris RdNr 26).
2. Hierbei ist bereits die tatsächlich gegebene Einschränkung der Teilhabemöglichkeiten des Kleinkinds entscheidend und nicht erst deren Erkennbarkeit nach außen - etwa für Eltern oder Kinderärzte - oder ihre tatsächliche Wahrnehmung durch außenstehende Beobachter.
3. Bei einer noch nicht diagnostizierten Erkrankung an frühkindlichem Autismus und bei Fehlen jeglicher Anhaltspunkte für einen erheblich gesteigerten Pflegeaufwand greift trotz der Regelung des Teil A Nr 5 Buchst d DBuchst bb VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Anlage zu § 2 VersMedV) die Intention gemäß Teil A Nr 5 Buchst b VMG durch, das Merkzeichen H bei nicht messbarem oder eher geringfügigem Mehraufwand auch bei Kindern und Jugendlichen nicht zuzuerkennen.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der am 1. August 2013 geborene Kläger, bei dem frühkindlicher Autismus festgestellt worden ist, begehrt - vertreten durch seine Eltern - die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 sowie der Merkzeichen H und B bereits ab dem Tag seiner Geburt. Festgestellt sind ein GdB von 50 sowie die Merkzeichen H und B ab dem 1. August 2015, dem zweiten Geburtstag des Klägers, festgestellt ist ferner ein GdB von 70 ab dem 28. August 2015 gemäß Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2017.
Am 11. März 2016 beantragte der Kläger, dessen aus K. stammenden Eltern beide als selbständige Zahnärzte tätig sind, die Feststellung eines GdB aufgrund einer tiefgreifenden frühkindlichen Entwicklungsstörung sowie eines frühkindlichen Autismus. Der Beklagte holte einen Befundbericht des Kinderarztes Dr. L. ein, der mitteilte, der Kläger sei seit Januar 2016 in seiner Betreuung, der Verdacht auf Autismus sei aufgekommen und der Kläger sei im Sozialpädiatrischen Zentrum des Kinderhospitals M. vorgestellt worden. Im dortigen Bericht vom 8. Februar 2016 ist ausgeführt, in der Entwicklung seien die motorischen Meilensteine zeitgerecht erreicht worden, allerdings würden im Bereich der sprachlichen Entwicklung große Auffälligkeiten bestehen. Der Kläger werde zweisprachig erzogen (polnisch und deutsch), die Lautentwicklung im Säuglingsalter sei den Eltern unauffällig erschienen. Im Verlauf sei es jedoch zu einer deutlichen Verzögerung der sprachlichen Entwicklung gekommen. Ein Versuch im November 2015, den Kläger in eine Kindertagesstätte einzugliedern, sei aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten gescheitert. Nunmehr sei der Besuch einer integrativen Krippe geplant. Diagnostiziert wurde eine deutliche globale Entwicklungsretardierung, die insbesondere den sprachlichen Bereich betreffe. Besonders auffallend sei das Verhalten des Klägers gewesen, eine Kontaktaufnahme sei nicht möglich gewesen. Es bestehe der Verdacht auf eine Erkrankung aus dem autistischen Formenkreis. Seit Februar 2016 ist u. a. die Pflegestufe I anerkannt worden. Der Kinderarzt Dr. N. berichtete unter dem 24. Mai 2016, im Rahmen der Untersuchung U7 sei es im August 2015 zu stärkeren Auffälligkeiten gekommen, der Kläger habe kein Wort verständlich aussprechen können und sei stetig suchend im Zimmer unterwegs gewesen. Die Auffälligkeiten seien dann nach der Eingruppierung im Kindergarten stärker hervorgetreten. Die weitere ärztliche Betreuung erfolge seit Januar 2016 durch Dr. L.. Vom 8. bis 10. Juli 2015 befand sich der Kläger zudem in stationärer Behandlung wegen Gastroenteritis.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten - Dr. O. - empfahl die Feststellung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens H ab dem 1. August 2015, was der Beklagte mit Bescheid vom 30. Juni 2016 umsetzte. Das insbesondere mit dem Ziel der rückwirkenden Feststellung des GdB auf den Tag der Geburt durchgeführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Dort wurde ein ergänzender Bericht des Kinderhospitals M. vom 2. Mai 2016 beigezogen. Der Ärztliche Dienst - Dr. P. - sah Auffälligkeiten in der Entwicklung des Klägers erst im August 2015 im Rahmen der U7 erstmalig dokumentiert und empfahl dementsprech...