Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen Bl. Blindheit. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Störung des Sehapparats im organischen Sinn. fehlende Reaktion auf visuelle Reize nicht ausreichend. Beweislast
Orientierungssatz
1. Das Merkzeichen Bl setzt Störungen des Sehapparats im organischen Sinn voraus. Die fehlende Reaktion auf visuelle Reize insoweit genügt nicht.
2. Ergibt die bildgebende Diagnostik bildmorphologisch kein eindeutiges Korrelat für eine Rindenblindheit, ist eine solche zu verneinen.
3. Die Beweislosigkeit des Ausfalls einer Überprüfungsmöglichkeit der Sehschärfe und der Gesichtsfeldfunktion geht zu Lasten der antragstellenden Person.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 27. April 2017 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung zur Feststellung des Merkzeichens Bl (Blindheit und hochgradige Sehbehinderung) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer Stoffwechselstörung (nichtketotische Hyperglycinämie (NKH )). Wegen der Funktionsbeeinträchtigung des Stoffwechsels durch nonketonische Hyperglycinämie mit zentralnervöser epileptogener Beteiligung erkannte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und zuletzt die Merkzeichen H, B, G und aG zu. Für die Klägerin besteht Pflegebedürftigkeit nach Pflegegrad 5.
Am 10. Oktober 2012 stellte die durch ihre Eltern vertretene Klägerin einen Neufeststellungsantrag, mit welchem sie die Feststellung des Merkzeichens Bl begehrte und der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt. Zur medizinischen Sachverhaltsaufklärung forderte der Beklagte einen Befundbericht des Facharztes für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Dr. N. und das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 29. Oktober 2012 an. In seinem Befundbericht vom 28. November 2012 führte Dr. N. aus, dass die Klägerin nicht mit dem Blick folge und sie die Augenlider zu kleinen Sehschlitzen verschlossen halte. Wenn sie die Augen aufreiße, verdrehe sie die Pupillen nach oben. Man müsse davon ausgehen, dass das Gehirn aufgrund der Stoffwechselstörung und der täglichen Krampfanfälle visuelle Sinneseindrücke bisher gar nicht habe verarbeiten können. Dem Befundbericht waren weitere ärztliche Berichte beigefügt; wegen der Einzelheiten wird auf den Tatbestand des Senatsurteils vom 22. November 2017 - L 13 SB 71/17 - verwiesen. Nach Auswertung der Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Februar 2013 das Merkzeichen RF fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens Bl ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen kein Anhalt für eine Blindheit nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) ergebe. Das Widerspruchsverfahren blieb nach weiteren Ermittlungen gemäß Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 25. September 2013 erfolglos. Auch insoweit wird wegen der Einzelheiten auf den Tatbestand des Senatsurteils vom 22. November 2017 verwiesen.
Die Klägerin hat, vertreten durch ihre Eltern, am 24. Oktober 2013 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Aurich erhoben. Zur Begründung hat sie sich unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Oktober 2004 - B 7 SF 2/03 R - darauf berufen, dass bei einer Störung des Erkennens von Blindheit im Sinne des Gesetzes auszugehen sei. Zudem habe das BSG in seiner Entscheidung vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R - zum bayerischen Landesblindengeldgesetz klargestellt, dass es im Grunde nicht mehr darauf ankomme, ob die Blindheit ursächlich im Sehzentrum anzusiedeln sei oder durch eine cerebrale Störung zumindest mitverursacht werde.
Das SG Aurich hat Beweis erhoben durch die Einholung eines augenärztlichen Gutachtens des Facharztes Dr. O. In seinem Gutachten vom 23. November 2016 ist er nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 22. November 2016 zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei der Klägerin weitgehend um eine gnostische Störung handele, da sie keinerlei Reaktion auf visuelle Reize zeige. Eine Erhebung der Sehschärfe und der Gesichtsfeldfunktion sei bei der Klägerin aufgrund der fehlenden Reaktion auf visuelle Reize und der fehlenden Kommunikationsfähigkeit nicht möglich. Eine Orientierungsfähigkeit der Klägerin sei nicht gegeben. Auch eine gnostische Störung sei als Blindheit zu werten, wenn keine Reaktion auf visuelle Reize erfolge. Ob eine Rindenblindheit vorliege, könnte nur mit bildgebender Diagnostik festgestellt werden Dies sei aber entbehrlich, da die Voraussetzungen des Merkzeichens Bl auf jeden Fall erfüllt seien.
Unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 19. Dezember 2016 - Dr. P. - ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Die Begutachtung durch Dr. O. habe den Nachweis, dass Strukturen des optischen Apparates einer Zerstörung ent...