Entscheidungsstichwort (Thema)
Impfschadensrecht. Impfschaden. Masern/Mumps-Schutzimpfung. Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis bzw subakute Einschlusskörperchen-Enzephalitis. Arbeitsergebnisse der STIKO. aktueller Stand der medizinischen Wissenschaft
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Anerkennung einer Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (Measles Inclusion Body Encephalitis - MIBE) bzw. einer subakuten Einschlusskörperchen-Enzephalitis als Impfschaden i.S.d. BSeuchG bzw. IfSG.
2. Bei den im Epidemiologischen Bulletin veröffentlichten Arbeitsergebnissen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut handelt es sich um eine Darstellung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft bzgl. Impfkomplikationen. Diese Arbeitsergebnisse (zuletzt veröffentlicht im Epidemiologischen Bulletin 25/2007 vom 22. Juni 2007) sind - wie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) - als herrschende medizinisch-wissenschaftliche Lehrmeinung der Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen Impfung und Gesundheitsstörung zugrunde zu legen (vgl. Abschnitt 57 der AHP 2008).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitbefangen ist die Anerkennung eines Impfschadens i.S.d. Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) bzw. des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) sowie die Gewährung von Beschädigtenversorgung.
Der am K. geborene Kläger wurde am 17. Mai 1983 vom Kinderarzt Dr. I. gegen Masern und Mumps geimpft. Auf diese Schutzimpfung führen die Eltern des Klägers dessen Erkrankung zurück, die als “generalisiertes Anfallsleiden mit mentalem Entwicklungsrückstand„ als Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt ist (Bescheid des Versorgungsamtes Braunschweig vom 21. März 1989).
Am 4. April 1991 stellten die Eltern des Klägers für diesen beim Beklagten einen Antrag nach dem BSeuchG und gaben an, dass der Kläger am 21. März 1983 bei einem Sturz den linkeren oberen Schneidezahn samt Wurzel verloren habe. Der Zahn sei provisorisch wieder eingesetzt und geschient worden. In den “folgenden sechs Monaten„ sei es zu “leichten Fieberschüben, zunehmender Appetitlosigkeit, Angstzuständen, Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen und Schmerzen beim Kauen„ gekommen. Nachdem am 17. Mai 1983 die Masern-/Mumps-Impfung durchgeführt worden sei, sei die Kieferschiene im Oktober 1983 entfernt worden (wiederum unter Vollnarkose). Rings um die OP-Stelle sei alles entzündet und leicht vereitert gewesen. Der Zahn sei nicht wieder angewachsen, sondern nach sechs Wochen ausgefallen. Von “Oktober 1983 bis Sommer 1984„ hätten sich die Symptome verstärkt. Außerdem seien Sprachstörungen, eine schnelle Ermüdbarkeit beim Laufen (motorische Störung), zunehmende Verdauungsstörungen, krampfartige Bauchschmerzen (oftmals von Schluckauf begleitet), ein erneutes zeitweises Einnässen (nachdem der Kläger bereits “trocken„ gewesen sei) sowie morgendliche Schläfrigkeit hinzugetreten. “Vermutlich spielten sich hier schon erste Anfälle ab„. Im Oktober 1984 sei es zu einem ersten schweren Krampfanfall bei bestehender Pharyngitis gekommen (vgl. den von den Eltern des Klägers erstellten “Krankheitsverlauf des Krampfleidens von L.„ vom 18. Juli 1991).
In den Jahren ab 1985 unterzog sich der Kläger umfangreichen Untersuchungen, u.a. in der Kinderklinik des Städtischen Klinikums M., der Kinder- und Kinderpoliklinik der Medizinischen Hochschule N., der Kinder- und Kinderpoliklinik der O. -Universität P., der Kinderklinik des Universitätskrankenhauses Q., der Kinderklinik des Stadtkrankenhauses R., im Gemeinnützigen Gemeinschaftskrankenhaus S. (Klinikum der Universität T.), in der Kinderabteilung der Städtischen Krankenanstalt U., der Kinderabteilung der Klinik V., W., der Paracelsus-Klinik N., im Kinderhospital X. und in der Y. -Klinik X.. Eine einheitliche Diagnose wurde nicht gestellt; mehrfach wurde die Diagnose “Epilepsie„ bzw. “Lennox-Gastaut-Syndrom„ genannt.
Die Eltern des Klägers trugen die Unterlagen sämtlicher o.g. Behandlungen zusammen und reichten sie zur Verwaltungsakte. Außerdem legten sie eidesstattliche Versicherungen über den Entwicklungsverlauf des Klägers von der Großmutter und der Patentante des Klägers, Frau Z. und Frau AA., vom 15. Januar 1992 bzw. 22. Dezember 1991 vor.
Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen durch Prof. Dr. AB. (Stellungnahme vom 15. September 1992) lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 1. Oktober 1992 ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass es im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Schutzimpfung nicht zu Krampfanfällen, Bewusstlosigkeit oder motorischen Ausfallserscheinungen gekommen sei. Deshalb handele es sich bei dem Lennox-Gastaut-Syndrom nicht um einen Impfschaden.
Im Widerspruchsverfahren machten die El...