Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit der Fünf-Jahres-Frist des § 586 Abs 2 S 2 ZPO für Rücknahmen nach § 45 Abs 3 S 2 SGB 10 iVm § 580 Nr 7 Buchst b ZPO. Berücksichtigung der Rücknahmefristen des § 45 Abs 3 SGB 10 als materielles Recht im Rahmen einer Korrektur nach § 44 Abs 1 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X ist auch bei Vorliegen von Wiederaufnahmegründen nach § 580 ZPO nicht unbefristet möglich.

2. Die Rechtsprechung des BSG (vgl BSG vom 24.3.1993 - 9/9a RV 38/91 = BSGE 72, 139 = SozR 3-1300 § 45 Nr 16) zu § 45 Abs 3 S 2 SGB X ist durch die Einfügung von § 45 Abs 3 S 4 und 5 SGB X zum 15.4.1998 (vgl BGBl I, 688) nicht überholt.

3. Bei den Rücknahmefristen nach § 45 Abs 3 SGB X handelt es sich nicht lediglich um Formvorschriften, sodass ein Verstoß gegen sie im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X (analog) nicht außer Acht gelassen werden kann.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 21.10.2020; Aktenzeichen B 13 R 19/19 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 13.4.2016 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.5.2014 verpflichtet wird, den Bescheid vom 10.4.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2012 zurückzunehmen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens über die Rechtmäßigkeit einer teilweisen Rücknahme eines Rentenbescheides und der Rückforderung der überzahlten Rente.

Die Klägerin ist die Ehefrau und laut Erbschein des Amtsgerichts J. vom 17.1.2011 alleinige Erbin des am 23.10.2011 verstorbenen Herrn K. Mit Bescheid vom 22.8.2000 bewilligte die Beklagte diesem ab dem 1.10.2000 eine Altersrente für Schwerbehinderte, Berufungsunfähige oder Erwerbsunfähige.

Am 9.11.2011 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente. Im Rahmen des Antragsverfahrens erlangte die Beklagte davon Kenntnis, dass der verstorbene Ehemann der Klägerin jedenfalls seit Juli 2000 bis zu seinem Tode aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 16.10.1968 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 von Hundert i. H. v. zuletzt 666,03 € monatlich von der L. -Berufsgenossenschaft, nunmehr Berufsgenossenschaft M. (N., vgl. Bescheid vom 12.1.1972) bezog.

Mit Schreiben vom 19.1.2012 hörte die Beklagte die Klägerin zu der beabsichtigten teilweisen Rücknahme der gegenüber ihrem Ehemann erfolgten Rentenbewilligung nach § 45 SGB X und die Rückforderung von Zahlungen i. H. v. insgesamt 27.927,30 € nach § 50 SGB X an. Erst mit dem Antrag der Klägerin auf Gewährung der Witwenrente habe sie Kenntnis davon erlangt, dass der Ehemann eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung bezogen habe, die auf den Rentenanspruch anzurechnen sei. In dem Antrag auf Gewährung einer Altersrente vom 31.5.2000 sei der Bezug einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneint worden. In dem Rentenbescheid vom 22.8.2000 sei auf die möglichen Auswirkungen des Bezugs einer Verletztenrente und auf die diesbezüglichen Mitteilungspflichten hingewiesen worden. Aufgrund der fehlerhaften Angaben in dem Rentenantrag vom 31.5.2000 bestehe kein Vertrauen in den Bestand des Bewilligungsbescheides. Sie gehe davon aus, dass die Klägerin Erbin ihres Ehemannes sei. Damit hafte sie für die Verbindlichkeiten des Verstorbenen ihr gegenüber.

Auf das Anhörungsschreiben nahm die Klägerin mit Schreiben vom 2.4.2012 sinngemäß dahingehend Stellung, dass sie keinerlei Kenntnis davon habe, dass ihr Ehemann unrichtige Angaben getätigt habe. Eine Rücknahme sei nur möglich, wenn die Beklagte eine Urkunde gemäß § 580 Nr. 7 ZPO vorläge.

Mit Bescheid vom 10.4.2012 hob die Beklagte den Bescheid vom 22.8.2000 hinsichtlich der Höhe der Leistungen auf und verlangte die Erstattung von Zahlungen i. H. v. 27.927,30 €. Zur Begründung wiederholte sie zunächst ihre Ausführungen aus dem Anhörungsschreiben. Darüber hinaus führte sie aus, dass die Frist für die Rücknahme des Bescheides nicht abgelaufen sei, da ein Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 Nr. 7b ZPO vorliege. Es liege in der Gestalt des Bescheides über die Gewährung der Verletztenrente vom 12.1.1972 eine Urkunde vor, welche zu einer korrekten Berechnung der Altersrente geführt hätte, wenn diese schon zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung vorgelegen hätte. Der Ausdruck eines eingescannten Bescheides sei dem ursprünglichen Bescheid gleichzustellen. Letztlich sei nicht im Rahmen des auszuübenden Ermessens von einer Rücknahme für die Vergangenheit abzusehen, da der fehlerhafte Bescheid auf Angaben beruhe, die entweder vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig vorgenommen worden seien. Die Beklagte selber habe keine Möglichkeit gehabt, die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 22.8.20...

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