Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Passverlängerung. abweichende Leistungserbringung als Darlehen. Sozialhilfe. Hilfe in sonstigen Lebenslagen. atypischer Bedarf. Entschließungsermessen. Auswahlermessen. Vermögenseinsatz. angemessenes Kraftfahrzeug nach § 12 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB 2. Schonvermögen nach § 90 Abs 3 S 1 SGB 12. Forderung gegen einen Dritten. Mittellosigkeit des Schuldners. - siehe dazu anhängiges Verfahren beim BSG: B 8 SO 8/17 R

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 73 SGB XII ermöglicht die Übernahme von Kosten, die Ausländern wegen der Passbeschaffung oder -verlängerung entstehen. Dies gilt auch für die Zeit nach Inkrafttreten des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) zum 1.1.2011 (BGBl I 2011, 453).

2. Der Sozialhilfeträger muss eine Ermessensentscheidung nach § 73 SGB XII über die Art und Weise der Hilfegewährung (Darlehen oder Beihilfe) auch dann treffen, wenn ein Pass zwingend benötigt wird (Auswahlermessen).

3. Für die Übernahme von Kosten der Passbeschaffung oder -verlängerung gibt es keine Anspruchsgrundlage im SGB II.

4. Privilegiertes Vermögen eines Leistungsberechtigten nach dem SGB II in Gestalt eines Pkw (§ 12 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB II) ist auch im Rahmen des § 73 SGB XII nicht zu berücksichtigen (Fortführung von BSG vom 18.3.2008 - B 8/9b SO 11/06 R = BSGE 100, 139 = SozR 4-3500 § 82 Nr 4).

5. Forderungen des Hilfebedürftigen, die wegen Mittellosigkeit des Schuldners in tatsächlicher Sicht nicht verwertbar sind (keine bereiten Mittel), sind nicht als Vermögen zu berücksichtigen (Anschluss an BSG vom 18.3.2008 - B 8/9b SO 9/06 R = BSGE 100, 131 = SozR 4-3500 § 90 Nr 3).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 29.05.2019; Aktenzeichen B 8 SO 8/17 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 20. Mai 2015 und der Bescheid des Beklagten vom 1. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. April 2015 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, über den Antrag der Klägerin vom 28. November 2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Übernahme von Passkosten.

Die 1970 geborene, erwerbsfähige Klägerin ist weißrussische Staatsangehörige, 1993 nach Deutschland eingereist und verfügte seit 1997 über einen unbefristeten Aufenthaltstitel aus familiären Gründen nach § 25 Abs. 3 Ausländergesetz, zuletzt über eine Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Sie lebt im Kreisgebiet des beklagten Landkreises und bezieht seit 2005 von dem im Berufungsverfahren beigeladenen Jobcenter Lüchow-Dannenberg laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Wegen der Verlängerung ihres bis 7. Januar 2015 gültigen Reisepasses wandte sie sich zunächst an den Beigeladenen, der eine Übernahme der damit einhergehenden Kosten - nach der damaligen Angabe der Klägerin von etwa 600,00 € - durch (bestandskräftige) Bescheide vom 5. Juni 2012 (als Darlehen nach § 24 SGB II) und 26. November 2014 (als Beihilfe nach § 21 Abs. 6 SGB II) mit dem Hinweis auf eine mögliche Kostenübernahme durch den zuständigen Sozialhilfeträger, den Beklagten, ablehnte. Den von der Klägerin am 28. November 2014 beim Beklagten gestellten Antrag auf Kostenübernahme lehnte dieser durch Bescheid vom 1. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. April 2015 ebenfalls ab.

Die hiergegen (bereits) am 8. Dezember 2014 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg durch Gerichtsbescheid vom 20. Mai 2015 mit der Begründung abgewiesen, der begehrte Zuschuss könne weder vom Beklagten noch vom zuständigen Jobcenter verlangt werden, weil die Kosten für die Verlängerung eines Reisepasses im Regelsatz bzw. Regelbedarf enthalten seien und insoweit keine atypische Bedarfslage (§ 73 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII) und kein Härtefall (§ 21 Abs. 6 SGB II) vorliege. Da die Klägerin keinen Antrag auf Gewährung eines Darlehens (§ 24 Abs. 1 SGB II) gestellt habe, sei die Beiladung des für die Klägerin zuständigen Jobcenters nicht erforderlich gewesen.

Auf den von der Klägerin gegen diese Entscheidung am 28. Mai 2015 erhobenen “Widerspruch„ hat der Senat die Berufung zugelassen (Beschluss vom 8. August 2016     - L 8 SO 226/16 NZB -, vorheriges Aktenzeichen - L 8 SO 155/15 -) und das Jobcenter Lüchow-Dannenberg beigeladen (Beschluss vom 2. September 2016). Zudem hat der Senat den Beigeladenen in einem 2016 eingeleiteten Eilverfahren verpflichtet, der Klägerin ein Darlehen zur Bestreitung der Passbeschaffungskosten zu gewähren (Beschluss vom 13. Januar 2017 - L 8 SO 266/16 ER -). Das Darlehen ist von der Klägerin nicht in Anspruch genommen worden.

Die Klägerin macht geltend, die Kosten für die seit über anderthalb Jahren auch aus Gründ...

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