Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenkürzung wegen Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. § 77 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 6 (Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für eine Inanspruchnahme vor Vollendung des 63. Lebensjahres) ist verfassungsgemäß.
2. Das Ziel der Vermeidung von Ausweichreaktionen von rentenberechtigten Versicherten von der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit auf die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist ein sachlich rechtfertigender Grund für die Gleichbehandlung der beiden Rentenarten bezüglich der Einführung von Rentenabschlägen in § 77 Abs 2 S 1 SGB 6. Denn ohne die Maßnahme des RRErwerbG, also ohne die Erstreckung der Rentenabschläge auch auf die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in § 77 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 6, wären sowohl die Altersgrenzenanhebung des RRG 1992 als auch das Vorziehen und Beschleunigen dieser Anhebung WFG in ihrer Wirkung gefährdet gewesen.
3. Das Vorziehen und Beschleunigen der Altersgrenzenanhebung bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit im WFG ist bereits mehrfach für verfassungsmäßig erachtet worden (vgl BSG vom 5.8.2004 - B 13 RJ 10/03 R = SozR 4-2600 § 77 Nr 1, BSG vom 25.2.2004 - B 5 RJ 44/02 R = BSGE 92, 206 = SozR 4-2600 § 237 Nr 1, vgl LSG Celle-Bremen vom 27.6.2002 - L 1 RA 239/01).
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die abschlagsfreie Zahlung ihrer Rente wegen Erwerbsminderung (EM). Sie hält die Anhebung der Altersgrenzen mit einhergehendem Entgeltpunkteabschlag bei den EM-Renten für verfassungswidrig.
Die im August 1960 geborene Klägerin hatte von der Beklagten in der Zeit vom 1. Juli 1992 bis zum 30. Juni 1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) auf Zeit bezogen (u. a. nach Sprunggelenksfraktur; Verdacht auf Morbus Sudeck; posttraumatische Arthrose mit Wackelsteife). Auf den Antrag auf Weiterbewilligung hatte die Beklagte vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (L 1 RA 297/01; vorgehend: Sozialgericht Aurich, S 6 RA 24/00, Urteil vom 27.11.2001) einen Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung (VEM) auf Zeit für die Dauer vom 1. März 2003 bis zum 31. Oktober 2004 anerkannt.
Nach Annahme des vor dem LSG abgegebenen (Teil-)Anerkenntnisses durch die Klägerin erließ die Beklagte den (Ausführungs-)Bescheid vom 2. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. August 2003. Hierin hatte sie den Zugangsfaktor der VEM-Rente dahingehend berechnet, dass sie die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur Anwendung brachte, wonach bei der erstmaligen Feststellung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den die Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, eine Herabsetzung des Zugangsfaktors (ausgehend von 1,0) um 0,003 vorzunehmen ist (wobei eine maximale Kürzung nicht überschritten werden darf).
Mit ihrer hiergegen am 17. September 2003 vor dem Sozialgericht (SG) Aurich erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI verfassungswidrig sei und deshalb nicht habe von der Beklagten angewendet werden dürfen. Denn zwar habe der Gesetzgeber in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2, 3 und 4 SGB VI jede der dort genannten Rentenarten, also z. B. Altersrenten wegen Arbeitslosigkeit, EM-Renten und Hinterbliebenenrenten, in gleicher Weise einem Abschlag bei vorzeitiger Inanspruchnahme unterworfen. Jedoch bestünden zwischen diesen Rentenarten Unterschiede von so starkem Gewicht, dass diese Gleichbehandlung verfassungswidrig sei. Insbesondere bestünden erhebliche Unterschiede zwischen der Rente wegen EM einerseits und der AR wegen Arbeitslosigkeit andererseits, so dass die bei der AR wegen Arbeitslosigkeit gesetzlich vorgesehene Abschlagsberechnung nicht auch bei der EM-Rente hätte gesetzlich vorgesehen werden dürfen. Der maßgebliche Unterschied sei dabei, dass die Versicherten bei der AR wegen Arbeitslosigkeit den Zeitpunkt der Inanspruchnahme selbst bestimmen könnten, und zwar durch die zeitliche Stellung des Antrages, während Versicherte mit eingetretener EM eine solche zeitliche Gestaltungsmöglichkeit nicht hätten. Erschwerend komme hinzu, dass beim Eintritt von EM die gesetzlichen Sozialleistungsträger z. B. der Krankenversicherung und des Arbeitsförderungsrechts (Krankenkassen, Bundesanstalt für Arbeit/Bundesagentur für Arbeit) bei ihrer Zahlung von Krankengeld, Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe die Versicherten durch die Drohung mit der Einstellung ihrer Leistungen zur Antragstellung auf medizinische Rehabilitation und/oder Teilhabe am Arbeitsleben auffordern könnten. Einem solchen Druck seien künftige Bezieher von AR wegen Arbeitslosigkeit nicht ausgesetzt, da b...