Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Arzneimittelregress. Ausschluss der Zuständigkeit der Prüfgremien zur Wirtschaftlichkeitsprüfung durch Vertrag zur integrierten Versorgung. keine Verordnungsfähigkeit des Immunglobulinpräparats Octagam

 

Leitsatz (amtlich)

Durch eine als "Vertrag zur integrierten Versorgung" bezeichnete Vereinbarung kann die Zuständigkeit der Prüfungsstelle bzw des Beschwerdeausschusses zur Wirtschaftlichkeitsprüfung nur ausgeschlossen sein, wenn eine überschlägige Prüfung ergibt, dass die Vereinbarung auch in der Sache die Grundvoraussetzungen eines Vertrags über die integrierte Versorgung erfüllt.

 

Orientierungssatz

Das Immunglobulinpräparat Octagam ist nicht ausnahmsweise aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 13.05.2020; Aktenzeichen B 6 KA 35/19 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beigeladenen zu 2. wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 21. September 2016 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten beider Rechtszüge als Gesamtschuldner mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen im Klageverfahren und der Beigeladenen zu 1. im Berufungsverfahren; diese tragen ihre Kosten selbst.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 47.890 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Arzneimittelregresse wegen der Verordnung intravenöser Immunglobuline (IVIG) in den Quartalen II/2008 bis IV/2009.

Die Klägerin zu 1. ist Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Physikalische und Rehabilitative Medizin, der Kläger zu 2. ist Arzt für Neurologie. Beide nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung teil und waren im hier streitbefangenen Zeitraum in einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) mit Sitz in F. tätig. In den Quartalen II/2008 bis IV/2009 behandelten sie sechs Versicherte der Beigeladenen zu 2., die an Multipler Sklerose (MS) mit schubförmigem bzw vorherrschend schubförmigem Verlauf erkrankt waren. Dabei stellten sie in den Quartalen II bis IV/2008 insgesamt 22 Verordnungen zugunsten der Patientinnen C.S., I.S. und I.J. über das IVIG Octagam aus. In den Quartalen III und IV/2008 verordneten sie das Präparat Octagam einmal für den Versicherten D.R. und dreimal zugunsten der Versicherten S.P. In den Quartalen I bis IV/2009 stellten sie schließlich insgesamt 32 Verordnungen über Octagam für die Patientinnen C.S., I.S. und L.K. aus.

Im Juni 2010 (bezüglich der Verordnungen in den Quartalen II bis IV/2008) bzw im Januar 2011 (I bis IV/2009) beantragte die Beigeladene zu 2. die Feststellung eines „sonstigen Schadens“, weil IVIG für die Therapie der MS nicht zugelassen seien und die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht vorlägen. Dem traten die Kläger mit Stellungnahmen entgegen, in denen sie das Erkrankungsbild der Patienten und ihre Gründe für die Verordnung von Octagam darlegten. Die Beigeladene zu 2. legte daraufhin gutachtliche Einschätzungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MdK) Niedersachsen/Bremen zu den Versicherten D.R., S.P., I.S. und C.S. vor, in denen eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verneint wurde.

Mit an die BAG adressierten Bescheiden vom 12. Januar 2012 (Quartale II bis IV/2008), vom 27. Oktober 2011 (Quartale III und IV/2008) und vom 21. Juni 2012 (I bis IV/2009) setzte die Prüfungsstelle Niedersachsen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung Regresse in Höhe von 17.238,22 Euro, 2.538,82 Euro und 28.113,22 Euro fest, weil die Verordnungen mit den Arzneimittel-Richtlinien nicht vereinbar seien.

Hiergegen legten die Kläger am 24. Januar 2012, am 21. November 2011 und am 29. Juni 2012 Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie aus, dass die betroffenen Versicherten in den umstrittenen Quartalen an der integrierten Versorgung nach dem Vertrag der Beigeladenen zu 2. mit dem ambulanten Pflegedienst G. zur Versorgung von Patienten mit entzündlichen/degenerativen Erkrankungen des Zentralen Nervensystems bzw mit AIDS teilgenommen hätten. Aus § 140a Abs 1 S 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) folge deshalb, dass der Sicherstellungsauftrag für die vertragsärztliche Versorgung eingeschränkt sei und die integrierte Versorgung aus der vertragsärztlichen Versorgung herausgelöst sei. Hieraus ergebe sich die sachliche Unzuständigkeit der Prüfgremien, weil diese nach § 106 Abs 1 SGB V nur dafür zuständig seien, die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung zu prüfen. Sollte sich der Beschwerdeausschuss dem nicht anschließen, werde beantragt, die Entscheidung über die Widersprüche zu vertagen.

Mit drei Bescheiden vom 21. Februar 2013 wies der Beklagte die Widersprüche zurück und bestätigte die festgesetzten Regresse. Der Beklagte sei für die Bescheidung der Widersprüche zuständig, weil § 106 SGB V den Grundsatz des allumfassenden Prüfauftrags st...

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