Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. zwangsweise Umsiedlung von Russlanddeutschen in eine Sondersiedlung. Wohnortbeschränkung von Russlanddeutschen in der UdSSR. Anschlussgewahrsam. Atomwaffen-Tests in der Nähe des Wohnorts. atomare Strahlung. Strahlungsschäden als Schädigungsfolge. gleiche Gefährdung wie einheimische Wohnbevölkerung. keine der Internierung eigentümlichen Verhältnisse. Häftlingshilfe. Bescheinigung nach § 10 Abs 4 HHG als konstitutive Voraussetzung für einen Anspruch nach § 4 HHG
Orientierungssatz
1. Einwirkungen durch ionisierende Strahlungen von Atomwaffen-Tests in der Nähe des zwangsweisen Aufenthaltsortes (hier eines Russlanddeutschen in der UdSSR) sind nicht der Internierung als ihr eigentümlich zuzurechnen, wenn die Strahlung auf die gesamte im Gebiet ansässige Bevölkerung unabhängig davon einwirkte, ob eine Internierung bestand oder nicht.
2. Die Bescheinigung gemäß § 10 Abs 4 HHG ist konstitutive Voraussetzung für einen Anspruch nach § 4 HHG, ihr Fehlen steht einem Anspruch entgegen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. Mai 2016 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Beschädigtenrente.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und wurde im Februar 1954 im kasachischen Ort Lugansk, 55 km nordöstlich der Stadt Pawlodar geboren. Sein Vater war nach seinen Angaben dorthin aus dem Ort Katharinenfeld (heute: Bolnissi, Georgien) auf Grund des Ukas vom 28. August 1941 durch die sowjetische Streitmacht deportiert worden. Die Familie des Klägers lebte in Lugansk unter sogenannter Kommandanturaufsicht. Infolgedessen verfügte sie nicht über Personalausweise, musste sich regelmäßig bei den Behörden melden und durfte ihren Wohnort nicht ohne offizielle Genehmigung verlassen. Im Jahr 1956 erhielt die Familie des Klägers Personalpapiere durch die UdSSR ausgestellt, nachdem sich der damalige Bundeskanzler Adenauer für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der in der UdSSR lebenden Russlanddeutschen eingesetzt hatte. Der Kläger zog mit seiner Familie im August 1957 zu Verwandten nach Semipalatinsk, dem heutigen Semei (Kasachstan). Er lebte dort bis Juni 1976.
Auf einem rund 200 km südwestlich von Pawlodar und 150 km westlich von Semipalatinsk gelegenen Gebiet, dem sogenannten Atompolygon, führte die UdSSR in den Jahren 1949 bis 1989 Testversuche mit Atombomben durch. Bis 1963 erfolgten 116 Zündungen oberirdisch, danach wurden die Testreihen unterirdisch fortgesetzt.
Im Jahr 1991 übersiedelte der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland. Ihm ist mit Bescheid vom 11. August 1992 eine Entschädigung durch die Stadt I. nach dem Kriegsgefangenengesetz gewährt worden, die auf einer Internierung vom 11. Februar 1954 bis Juli 1956 beruht. Über eine Bescheinigung nach dem Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden (Häftlingshilfegesetz - HHG) verfügt der Kläger nicht.
Im Jahr 2011 wurde bei dem Kläger ein Plasmozytom diagnostiziert. Hieraus hatten sich multiple Osteolysen entwickelt und eine pathologische Fraktur des Brustwirbelkörpers 6 ergeben. Infolgedessen wurde ihm ab Februar 2012 ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 sowie das Merkzeichen „G“ zuerkannt. Seit 2012 bezieht der Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der Kläger erhielt mit Datum vom 2. August 2012 eine Bescheinigung der Republik Kasachstan ausgestellt, in der das „Recht auf Vergünstigungen des Geschädigten/Opfers infolge der Versuche auf dem Semipalatinsker Versuchspolygon“ bestätigt wurde. In der Bescheinigung war angegeben, dass der Kläger vom 16. August 1957 bis 30. Juni 1976 in der Stadt Semipalatinsk gewohnt habe, die in der Zone mit erhöhtem radioaktivem Risiko liege. Der Aufenthalt in Lugansk wurde in der Bescheinigung nicht erwähnt.
Im Juli 2012 wandte sich der Kläger mit einer Eingabe an den Niedersächsischen Landtag, in der er auf Russlanddeutsche als Opfer der Atombombentests auf dem Semipalatinsker Atomversuchsgelände aufmerksam machte und die Anwendung des BVG verlangte. Im Zuge dessen wurden Stellungnahmen des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration, des Landesbeauftragten der Niedersächsischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eingeholt. Am 10. September 2012 fand bei dem Landesbeauftragten der Niedersächsischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler ein Gespräch über die Problematik unter Beteiligung des Klägers statt.
Der Kläger beantragte mit Datum vom 20. August 2012 außerdem Beschädigtenversorgung bei dem beklagten Land. Zur Begründung verwies er darauf, dass er Strahlung infolge der Atomtests ausgesetzt gewesen und die schwere Krebserkrankung hierauf...