Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Kindheit. sozialgerichtliches Verfahren. Verwertung von Glaubhaftigkeitsgutachten. keine geänderten Maßstäbe bei der Stellung von Beweisfragen. Beweiswürdigung durch das Gericht. kein Rückschluss von psychischen Erkrankungsbild auf vorhergehende sexuelle Schädigung

 

Leitsatz (amtlich)

Glaubhaftigkeitsgutachten können in opferentschädigungsrechtlichen Gerichtsverfahren verwertet werden.

Aus bestimmten ärztlich gestellten psychiatrischen Diagnosen kann nicht auf einen schädigenden Vorgang zurück geschlossen werden.

 

Orientierungssatz

1. In ständiger Rechtsprechung geht der Senat davon aus, dass die Beantwortung der Frage, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können, dem Gericht obliegt, und dass es hierzu alle Umstände des Einzelfalles - einschließlich der Ergebnisse etwaiger aussagepsychologischer und sonstiger Gutachten - abzuwägen hat (Anschluss an LSG Celle-Bremen vom 29.1.2015 - L 10 VE 28/11; Abgrenzung zu BSG vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R = USK 2013-34).

2. Selbst soweit sich eine konkrete Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen sexuellen Missbrauchs bei Bestehen bestimmter Gesundheitsstörungen bestimmen lassen würde, würde allein darauf gestützt eine Glaubhaftigkeit des Vorliegens von sexuellem Missbrauch nicht hergeleitet werden können.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. September 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin Schädigungsfolgen festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren sind.

Die 1965 geborene Klägerin beantragte erstmals im November 2006 die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Sie gab hierbei an, im Alter von etwa 12 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein. Über mehrere Tage hin sei ihr Vater abends, nachdem sie bereits in ihrem Bett gelegen habe, in das Kinderzimmer gekommen und habe sie dann am Rücken, an den Brüsten, am Bauch, an den Oberschenkeln sowie an und in der Vagina gestreichelt. Ihr sei das sehr unangenehm gewesen. Sie habe sich geschämt. Sie habe nicht gewusst, was sie machen könne. Sie habe sich deshalb schlafend gestellt. Als Folge dessen leide sie unter erheblichen Problemen mit ihrer Weiblichkeit und mit der Sexualität, unter ständigen Brustschmerzen, Neurodermitis, Jucken auch im Genitalbereich, gestörter Eigenwahrnehmung, Ängsten, Panikattacken, Suchtverhalten und psychosomatischen Beschwerden. Ihr - während der Gerichtsverfahrens inzwischen verstorbener - Vater sei körperlich und psychisch krank und nicht in der Lage, eine Aussage zu machen. Ihre Mutter könne zu den Taten keine Aussage machen, weil sie nicht dabei gewesen sei.

Nach Beiziehung der über die Klägerin geführten Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Leistungen mit Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2007 ab. Die behaupteten schädigenden Handlungen seien nicht bewiesen. Auch durch das Gutachten des Nervenarztes Dr. I., das für die Deutsche Rentenversicherung Bund erstattet worden sei, sei nicht bewiesen, dass die Klägerin Opfer von Gewalttaten geworden sei.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Lüneburg erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass sie die Taten detailliert geschildert habe. Weil andere Beweismittel nicht existierten, müsse für die Beurteilung der maßgeblichen Frage von ihrem Vorbringen ausgegangen werden. Der Beweis des Gegenteils sei auch nicht etwa dadurch erbracht, dass sie weiterhin Kontakt zu dem Vater unterhalte. Die Klägerin hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass ihre Mutter ihren Vater einmal angezeigt habe. Das Sozialgericht hat daraufhin die Akte der Staatsanwaltschaft J. zum Aktenzeichen K. (betreffend ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen der Angabe der Mutter der Klägerin, sie sie in der Ehe von dem Vater der Klägerin vergewaltigt worden; diese Angabe hatte die Mutter der Klägerin im Zusammenhang mit einer anderweitigen Strafanzeige gegen den Vater der Kläger getätigt) beigezogen. Sodann hat es in dem Termin am 11. Dezember 2008 die Klägerin angehört und ihre Mutter als Zeugin vernommen. Schließlich hat das Sozialgericht die Akte des Rentenrechtsstreits zum Aktenzeichen S 1 R 13/08 des Sozialgerichts beigezogen.

Sodann hat das Sozialgericht von der Diplom-Psychologin L. ein Glaubhaftigkeitsgutachten erstatten lassen. In dem unter dem 11. Juli 2009 erstatteten Gutachten hat die Sachverständige auf eine Reihe von Bedenken gegen die Richtigkeit der Aussage der Klägerin hingewiesen und zusammenfassend die Auffassung vertreten, die Erlebnisbasiertheit der Schilderung der Kläger...

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