Entscheidungsstichwort (Thema)
neue Berufskrankheit. Ermächtigungsgrundlage. Verletzung. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule. neue Erkenntnisse. medizinische Wissenschaft
Leitsatz (amtlich)
Die mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 18.12.1992 (BGBl I S 2343) erfolgte Aufnahme "bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" in die Liste der Berufskrankheiten - als Nummer 2108 der Anlage 1 zur BKVO - hält sich nicht im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des § 551 Abs 1 S 3 RVO und ist deshalb unwirksam. Denn es gibt keine hinreichend gefestigte Auffassung der medizinischen Wissenschaft, daß für Angehörige von Berufsgruppen, die diese Tätigkeiten verrichten, das Risiko bandscheibenbedingter Erkrankungen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung erheblich erhöht ist.
Nachgehend
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten sowie durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Berufskrankheit - BK - Nr. 2108 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten- Verordnung - BKVO) leidet.
Der 1940 geborene Kläger verrichtete seit Beginn seiner Ausbildung im Jahr 1955 bis 1993 als Maurer schwere Hebe- und Tragetätigkeiten sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten der Beklagten vom 17. Juli 1995, "Dokumentation des Belastungsumfangs Maurer" der Beklagten). Im März 1993 beantragte er die Feststellung einer BK und gab an, seit Anfang der 80er Jahre Schwierigkeiten mit dem Rücken zu haben. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen sowie Röntgenaufnahmen bei und legte diese ihrem beratenden Arzt Dr. I vor. Dieser führte in seiner Stellungnahme vom 7. Dezember 1993 aus, an der LWS des Klägers finde sich bei L4/5 eine mäßiggradige osteochondrotische, spondylotische und spondylarthrotische Veränderung mit Degeneration der zugehörigen Bandscheibe. An den übrigen Segmenten der LWS bestünden dagegen nur gering- bis leichtgradige Verschleißerscheinungen. Die isoliert bei L4/5 verstärkt vorliegende degenerative Veränderung einschließlich des computertomographisch nachgewiesenen Bandscheibenvorfalls in dieser Höhe könne nicht ursächlich auf berufsbedingte Einflüsse zurückgeführt werden. Vielmehr seien individuelle Faktoren als Ursache anzunehmen. Das Vorliegen einer BK müsse verneint werden. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. März 1994 Entschädigungsleistungen ab. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1994).
Dagegen hat der Kläger am 14. September 1994 vor dem Sozialgericht (SG) Hannover Klage erhoben. Das SG hat das orthopädische Gutachten des Dr. A vom 29. August 1995 eingeholt. Dieser hat die Auffassung vertreten, daß die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers wahrscheinlich durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten entstanden sei. Es gehöre zu den Eigentümlichkeiten der LWS, daß generell Bandscheibenschäden und deren Folgezustände in mehr als 95 vom Hundert (v.H.) der Fälle in den beiden unteren Bewegungssegmenten jeweils zu gleichen Teilen isoliert oder auch kombiniert aufträten. Die Forderung, daß mehrere oder alle LWS-Segmente bandscheibenbedingt erkrankt sein müßten, sei wissenschaftlich nicht zu belegen. Vielmehr gehe aus epidemiologischen Studien hervor, daß bei Arbeitern, die beruflich einer erheblichen Belastung durch Heben und Tragen schwerer Lasten ausgesetzt gewesen seien, im Vergleich zur unbelasteten Wohnbevölkerung um mehr als den Faktor 2 häufiger höhergradige degenerative Veränderungen der LWS im Segment L5/S1 aufträten. Demgegenüber wies die Ärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. H in ihrer für die Beklagte erstatteten gutachtlichen Stellungnahme vom 12. Dezember 1995 darauf hin, daß das sogenannte monosegmentale Schadensbild im Fall des Klägers deshalb gegen eine berufliche Verursachung spreche, weil bei ihm neben der LWS auch die Halswirbelsäule (HWS) degenerativ verändert sei. Diese Veränderungen gingen auch mit einer klinischen Symptomatik einher. Da auch der nicht belastete Wirbelsäulenabschnitt von der Degeneration erfaßt sei, könne die Anerkennung einer BK nicht empfohlen werden. Daraufhin hat der Kläger die Bescheinigung seiner letzten Arbeitgeberin vom 29. Februar 1996 vorgelegt, nach der er seit 1985 auch Stahlträger auf den Schultern getragen habe.
Das SG ist Dr. A Wertung gefolgt und hat durch Urteil vom 25. Februar 1997 ein belastungsabhängiges, chronisch-rezidivierendes Lumbal-Syndrom bei fortgeschrittenem Verschleiß des Bandscheibenraumes L4/L5 und leichtgradigem Verschleiß des Bandscheib...